100 Jahre ANC: Mandelas herrschsüchtige Erben
Vor 100 Jahren gegründet, war der ANC für viele ein großer Hoffnungsträger. Heute lähmen Korruption, Machtkämpfe und Inkompetenz Südafrika.
Bloemfontein ist für die meisten Südafrikaner wenig mehr als ein Tankstopp auf halber Strecke zwischen Johannesburg und Kapstadt. Doch in den vergangenen Wochen wurden in der beschaulichen Hauptstadt der Zentralprovinz Free State viele historische Gebäude hektisch renoviert, darunter die unscheinbare Methodistenkirche von Waaihoek. Schließlich war es hier, wo am 8. Januar 1912 alles begann: 60 Delegierte aus allen Landesteilen versammelten sich damals an einem heißen Sommertag in der kleinen Steinkirche, um den Afrikanischen Nationalkongress (ANC) zu gründen, die älteste Widerstandsbewegung des Kontinents.
Tausende von Anhängern werden an diesem Wochenende in Bloemfontein erwartet, wenn der inzwischen zur südafrikanischen Regierungspartei aufgestiegene ANC dort mit viel Pomp und Pathos sein großes Jubiläum feiert. Um kurz nach Mitternacht wird am Sonntag in der Kirche von Waaihoek eine Fackel entzündet, die an das historische Treffen vor 100 Jahren erinnern soll. Allerdings wird der am sehnlichsten erwartete Gast wohl fehlen: Nelson Mandela, der Ex-Präsident und berühmteste Führer des ANC, wird wegen seines hohen Alters nicht an dem Festakt teilnehmen, sondern aus seinem Wohn- und Geburtsort Qunu Grußworte schicken. Der inzwischen 93-Jährige ist seit mehr als 60 Jahren Mitglied jener Bewegung, der er „alles in seinem Leben Erreichte“ verdankt.
Dass Mandela zu einer solch herausgehobenen Figur werden konnte, liegt nicht zuletzt daran, dass der ANC zumindest bis zur Abschaffung der Apartheid weit mehr als nur eine politische Bewegung war. Für viele Südafrikaner war er eine Lebenseinstellung, ein Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft, die lange Zeit Schwarz wie Weiß ein Zuhause bot. Dies erklärt auch, weshalb der ANC in seinem stets moralisch definierten Kampf gegen die Rassentrennung nicht nur für Südafrikaner, sondern auch für Anhänger im Ausland zum Symbol der Befreiung wurde. Kein Wunder, dass der ANC sein Jubiläum am Wochenende am liebsten als einen großen Staatsakt gefeiert hätte. Mehr denn je sehen sich viele seiner Vertreter heute als rechtmäßige Eigentümer, denn als Treuhänder des Landes.
Dass es so weit kommen konnte, liegt an der immer stärkeren Verschmelzung zwischen Partei und Staat während der mittlerweile 20-jährigen Herrschaft des ehemals als kommunistisch geltenden ANC. Längst sind alle wichtigen und politisch einst unabhängigen Posten systematisch mit parteitreuen Kadern besetzt worden – vom Polizeichef über den Bundesstaatsanwalt bis hin zu den Vorsitzenden halbstaatlicher Institutionen oder Unternehmen wie dem Staatsfernsehen oder dem Transportriesen Transnet. Nicht wenige haben ihre Stellung missbraucht, etwa die beiden letzten Polizeichefs. Bis heute empfindet der ANC fast jede Form von Opposition als konterrevolutionär. Wer von innen die offizielle Politik kritisiert, muss daher schnell mit dem Verlust von Posten und Einfluss rechnen.
Angesichts der raschen Metamorphose des ANC von einer moralisch inspirierten Bewegung zu einer fast nur noch am eigenen Machterhalt interessierten Partei sorgt das Jubiliäum am Wochenende vielerorts für gemischte Gefühle. Unabhängige Beobachter, wie der Kommentator Justice Malala, beklagen vor allem zermürbende Machtkämpfe, die Partei und Land seit Jahren lähmen. Vom Gesundheitswesen über die Sicherheitslage und das staatliche Bildungssystem bis hin zur konfusen Landreform liege vieles im Argen. Nun soll auch noch die kritische Presse mit drakonischen Gesetzen geknebelt werden. „Die traurige Wahrheit ist, dass ausgerechnet der ANC heute zur Gefahr für unsere Freiheit, für unsere Verfassung und für unseren Wohlstand geworden ist“, schreibt völlig desillusioniert der Enthüllungsjournalist und langjährige ANC-Anhänger Max du Preez, der in den 80ern die Todesschwadrone des Apartheid-Regimes entlarvte.
Besonders scharf geht die Presse mit Präsident Jacob Zuma ins Gericht, der keine Entscheidungen fälle und nicht in der Lage sei, einen modernen Staat zu führen. Zuma selbst hat in den vergangenen Wochen mit einer Reihe bizarrer Äußerungen für viel Kopfschütteln gesorgt. So machte er zum Beispiel kurz vor Weihnachten das Christentum für den „Mangel an Menschlichkeit“ in der südafrikanischen Gesellschaft verantwortlich – und drängte die Südafrikaner, zu ihren alten Sitten und Gebräuchen zurückzukehren. Selbst das Konzept der Gewaltenteilung scheint dem südafrikanischen Präsidenten fremd zu sein: Als er zuletzt von einem Gericht erneut wegen einer personellen Fehlentscheidung gemaßregelt wurde, beklagte sich Zuma bitter darüber, als gewählter Volksvertreter von einem nicht gewählten Richter Anordnungen zu erhalten.
Ebenso bedenklich sind seine Äußerungen, dass der ANC Südafrika bis zur Wiederkehr Jesu regieren werde. Beobachter sehen darin einen Beleg dafür, dass der ANC offenbar glaubt, ein göttliches Anrecht auf die Macht am Kap zu haben. Wohin dies im schlimmsten Fall führen kann, lässt sich im Nachbarland Simbabwe ablesen, wo Diktator Robert Mugabe sich seit Jahren mit Gewalt am Ruder hält – und dabei neuerdings vom ANC ausdrücklich unterstützt wird. Kein Wunder, dass Südafrika als (zeitweiliges) Mitglied des UN-Sicherheitsrats Unrechtsregimen wie Birma, Syrien oder dem Sudan zur Hilfe eilte – und dem Dalai Lama die Einreise zum 80. Geburtstag von Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu verweigerte.
Bei allen Enttäuschungen über die jüngste Entwicklung des ANC besteht kein Zweifel daran, dass er auch die nächste Wahl am Kap in zwei Jahren klar gewinnen wird. Dafür dürften schon die ethnisch eingefrorenen Loyalitäten sorgen. Sollte sich die Partei Mandelas jedoch immer weiter von ihren Wählern und dessen Erbe entfernen, läuft sie Gefahr, spätestens 2019 die Macht zu verlieren. Damit würde Südafrika dem Rest des Kontinents folgen: Die Aura, ein Land vom Joch der Kolonialherrschaft befreit zu haben, scheint in Afrika jedenfalls ein gutes Vierteljahrhundert zu halten – und dann schnell zu verblassen. Wenn der Werdegang anderer Widerstandsbewegungen als Maßstab taugt, könnte das Jubiläum in Bloemfontein das womöglich letzte große des ANC gewesen sein.