Neuwahlen in Großbritannien: Theresa May kann sich vorerst durchsetzen
Das britische Unterhaus hat der vorgezogenen Neuwahl zugestimmt. Was bedeutet die Wahl im Juni für das Land und für den Brexit? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Die Mehrheit war eindeutig: Mit 522 zu 13 Stimmen hat das britische Unterhaus am Mittwoch den Weg freigemacht für vorgezogene Neuwahlen. Die nötige Zweidrittelmehr für die Selbstauflösung kam zustande, weil neben den Konservativen von Premierministerin Theresa May auch die Opposition - Labour, Liberaldemokraten und Schottische Nationalpartei (SNP) - zustimmte. Zwei Jahre nach der letzten Parlamentswahl und ein Jahr nach dem EU-Referendum werden die Briten nun am 8. Juni ein drittes Mal in kurzer Zeit zu einer nationalen Abstimmung gebeten.
In der Parlamentsdebatte musste sich May gegen den Vorwurf wehren, unglaubwürdig zu sein - bis vor kurzem lautete die Sprachregelung in der Downing Street 10, eine vorgezogene Wahl werde es nicht geben. Der nächste reguläre Wahltermin wäre 2020 gewesen.
Warum will May die vorgezogene Wahl?
Aus zwei Gründen. May will mit einer Art Personalplebiszit zum einen ihre Partei hinter sich und ihren Brexit-Kurs zwingen. Zum anderen möchte sie mit der frühen Wahl freie Bahn für ihre Verhandlungen mit der EU schaffen. Am Dienstag hat sie in ihrer Ankündigung, im Parlament die vorgezogene Wahl zu beantragen, klar gemacht, dass sie um Stimmen für "Theresa May und die Konservativen" werben will. Sie wirbt um Vertrauen vor allem für sich. Ein Labour-Abgeordneter fragte sie am Mittwoch im Unterhaus, ob sie tatsächlich so wenig Zutrauen in die Mehrheit ihrer Partei habe, dass sie eine Neuwahl für nötig halte.
Aber so ist es wohl: Ein klarer Wahlsieg würde May weniger angreifbar machen und den Flügel der Brexit-Hardliner in die Defensive bringen. Von dieser Seite geht für May die größte Gefahr aus. Denn in den Gesprächen mit der EU wird es schon bald um Zugeständnisse und Kompromisse gehen. Die Hardliner aber wollen einen kompromisslosen Austritt. Zudem schafft sie mit der Neuwahl jetzt die Gefahr aus dem Weg, später parallel zu den Verhandlungen oder an deren Ende eine Wahl abhalten zu müssen. Die nächste reguläre Wahl steht nun 2022 an - das bringt die Möglichkeit, den zweijährigen Verhandlungsprozess für den EU-Austritt (er endet im März 2019) gegebenenfalls zu verlängern, wenn die EU-Partner das auch wünschen.
Was bedeutet die Wahl für den Brexit?
Abgeblasen wird er nicht, völlig unabhängig vom Ergebnis. Alle Parteien im Unterhaus mit Ausnahme der SNP akzeptieren das Resultat des Referendums vom Juni 2016, in dem sich 52 Prozent der Abstimmenden für den Austritt aus der Europäischen Union ausgesprochen haben. Während May allerdings klar gemacht hat, dass ihre Regierung Großbritannien nicht nur aus den politischen Strukturen der EU führen wird, sondern auch aus dem EU-Binnenmarkt (um dann, nach einer Übergangsperiode, ein bilaterales Handelsabkommen abzuschließen), wollen Labour und vor allem die Liberaldemokraten die wirtschaftlichen Bindungen an die EU nicht in diesem Ausmaß kappen. Zumindest darum wird es beider Wahl also gehen.
Dreht sich die Wahl nur um den Brexit?
Keineswegs. Zwar hat May die Brexit-Verhandlungen zum Anlass genommen, die Neuwahl zu fordern, und der EU-Austritt wird natürlich ein gewichtiges Thema im Wahlkampf sein. Aber im politischen Leben auf der Insel steht er nicht in dem Maß im Mittelpunkt, wie man auf dem Kontinent glauben möchte. Auch die Schulpolitik beschäftigt die Menschen und - wie bei jeder Wahl in den vergangenen Jahrzehnten - der Zustand des Nationalen Gesundheitsdienstes.
Zudem dürfte die Diskussion um die Zuwanderung bestimmend sein - wie schon beim EU-Referendum. Im Rededuell zwischen May und Labour-Chef Jeremy Corbyn im Unterhaus am Mittwoch kam der Brexit kaum vor. Es ging stattdessen um den Zustand der Wirtschaft, die Lohnentwicklung, die Renten, Kinderarmut und die Staatsschulden.
Worauf deuten die Umfragen hin?
Sie sind in Großbritannien nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre zwar mit besonderer Vorsicht zu genießen, aber der Trend in den Umfragen ist aktuell eindeutig: Die Konservativen können mit einem Sieg rechnen. Der Zeitpunkt ist für May also günstig, besser dürfte es nicht mehr werden in den kommenden Jahren. Dass die Erhebungen vom vergangenen Sonntag allerdings zwischen 38 und 46 Prozent für die Tories lagen, macht deutlich, dass die Wählerschaft ein Jahr nach dem Brexit-Votum noch in Bewegung ist. Nach dem britischen Mehrheitswahlsystem - nur die Wahlkreissieger ziehen ins Unterhaus ein - steuern die Konservativen auf ein Ergebnis irgendwo zwischen der derzeitigen Stärke (330 Mandate) und einem neuen Nachkriegsrekord zu.
1983 schafften sie es unter Margaret Thatcher, mit 42,4 Prozent der Stimmen 397 Sitze einzusammeln. Labour liegt derzeit zwischen 23 und 29 Prozent und könnte damit schlechter abschneiden als 1983, dem Nachkriegs-Tiefpunkt mit 203 Abgeordneten. Die rechtspopulistische United Kingdom Independence Party (Ukip) liegt bei etwa zehn Prozent, wird aber wohl wieder keinen Wahlkreis gewinnen. Die Liberaldemokraten dagegen hoffen, mit deutlich mehr als zehn Prozent das schlechte Ergebnis von 2015 (nur acht Mandate) zu verbessern.
Wie gehen die Konservativen in die Wahl?
May hat die Tories, die in ihrer Europapolitik seit Jahrzehnten gespalten sind, vorerst hinter sich geeint. Bis zum Referendum gab es drei Flügel: eine zwar euro-skeptische, aber grundsätzlich pro-europäische Mehrheit, die harten EU-Gegner und eine kleine Gruppe von erklärten EU-Anhängern. Im Jahr seit der Volksabstimmung hat May die Konservativen zur Partei der 52 Prozent geformt, die den Volksauftrag vom Juni 2016 angenommen hat und ausführen will. Das scheint bei den Wählern anzukommen. 50 Prozent wollen May laut Umfragen als Regierungschefin (was aber keineswegs ein komfortabler Wert ist, verglichen etwa mit Angela Merkels Zustimmungsquote von bis zu 70 Prozent).
Mays Brexit-Kurs ist zudem weniger klar, als manche in der Partei sich wünschen. Das könnte im Wahlkampf als Nachteil wirken. Zudem ist derzeit nicht abzusehen, wie die konservative Fraktion nach einem hohen Wahlsieg aussehen wird. Nicht ausgeschlossen ist, dass mehr entschlossene Europa-Gegner im Unterhaus sitzen werden und die Verfechter eines "smooth Brexit" (das ist Mays Ziel) geschwächt werden. Andererseits könnte eine sehr große Fraktion von der Regierungsbank aus leichter zu führen sein als die knappe Mehrheit von zehn Sitzen im derzeitigen Unterhaus. Dass einige Abweichler (in die eine wie die andere Richtung) die Mehrheit gefährden, wird geringer.
May hat nach dem Referendum im vorigen Jahr eine wirtschafts- und sozialpolitische Wende der Konservativen angekündigt - sie will den Tories eine britische Form der sozialen Marktwirtschaft verschreiben, was freilich dem Flügel, der noch am Marktradikalismus der Thatcher-Ära hängt (und das sind oft auch die Brexit-Hardliner) wenig Freude macht. Im Wahlkampf wird May hier konkreter werden müssen - was einen Teil der Partei verprellen könnte.
Wie steht die Labour Party da?
Die Partei ist gespalten und wirkt führungslos. Viele Unterhausmitglieder sind mit Corbyn als Parteichef unzufrieden. Der Parteilinke ist zwar an der Basis beliebt. Aber bis in sein Schattenkabinett hinein gibt es Zweifel, ob er einerseits May als Wahlkämpfer gewachsen und andererseits in der Lage ist, EU-Anhänger davon abzuhalten, ihr Kreuzchen bei den Liberaldemokraten zu machen. Denn Corbyn ist kein Freund der EU, er hat in der Kampagne vor dem Referendum eine eher lauwarme Vorstellung gegeben.
Labour zur Partei der 48 Prozent zu machen und damit eine klare Oppositionslinie gegen Mays Konservative aufzubauen, ist ihm nicht gelungen. Andererseits ist auch niemand in Sicht, der ihn ohne weiteres ablösen könnte. So taumelt die Partei geschwächt in den Wahlkampf. Mehrere Abgeordnete, und keineswegs nur ältere, haben schon angekündigt, nicht mehr anzutreten. Echter Kampfgeist ist nicht zu spüren. Corbyn wird versuchen, dem Brexit-Plebiszit von May auszuweichen und andere Themen zu setzen. Bei einem sehr schwachen Ergebnis wird er wohl abtreten müssen. Dann hätte May nebenher die Klärung der Führungsfrage bei Labour beschleunigt.
Wie stehen die Chancen der Liberaldemokraten?
Die Liberaldemokraten sind die einzige eindeutig europa-freundliche Partei in England und Wales und könnten es schaffen, Brexit-Gegner in der Mitte bei sich zu sammeln und bisherige Anhänger von Konservativen wie Labour zu sich zu ziehen. Auf eine vorgezogene Wahl hat die Partei sich eingerichtet und kann trotz ihrer gegenwärtigen Schwäche (Folge der krachenden Niederlage von 2015) mehr als 400 Kandidaten aufbieten. Doch für Parteichef Tim Farron kommt die Wahl etwas früh, er gilt in der Wählerschaft noch als wenig profilierter Neuling. Zudem leiden die Liberaldemokraten noch darunter, dass ihnen in der Koalition mit den Konservativen 2010 bis 2015 wenig gelang.
Die Partei hat sich mit dem Ergebnis des Referendums vorerst arrangiert. Farron sagte nach Mays Ankündigung, die Wahl sei eine Chance für alle, die einen "desaströsen harten Brexit verhindern und Großbritannien im Binnenmarkt halten wollen". Für Austrittsgegner könnte das zu wenig sein, auch wenn es einen Wiederbeitritt des Landes erleichtern wird.
Was bedeutet die Wahl für Schottland?
SNP-Chefin Nicola Sturgeon kann mit einem Wahlsieg im Norden der Insel rechnen. Die Schotten hatten sich vor einem Jahr mehrheitlich gegen den Brexit ausgesprochen, Sturgeon will Schottland in der EU halten und hat daher ein zweites Unabhängigkeitsreferendum im Blick. Das Regionalparlament in Edinburgh, in dem die SNP die Mehrheit hat, votierte unlängst dafür. Damit baute Sturgeon Druck auf May auf, deren Haltung es ist, das Vereinigte Königreich zusammenzuhalten. Ein Referendum während der Verhandlungen mit der EU lehnt May ab, ob es danach eines geben wird, kommt auf das Ergebnis der Gespräche mit den europäischen Partnern an.
Ob die vorgezogene Wahl (gesetzt, es kommt zu einem klaren Wahlsieg der Tories) May den Freiraum gibt, schottische Interessen eher zu berücksichtigen und in der eigenen Partei durchzuboxen, wird sich zeigen. Vorerst kann Sturgeon damit Stimmung machen, dass die Tories, die ihre Hochburgen vor allem in England haben und in Schottland zuletzt nur einen Wahlkreis gewannen, auf die schottischen Belange keine Rücksicht nehmen. Da die SNP schon vor zwei Jahren 56 der 59 schottischen Wahlkreise gewann, wird sie im neuen Parlament kaum stärker sein.
Fällt Sturgeon zudem deutlich hinter das Rekordergebnis von 2015 mit 50 Prozent der Stimmen zurück, wäre das ein unangenehmer Dämpfer - den die ehrgeizige und kämpferische Chefin der Regionalregierung durch mehr Konfrontation mit Westminster ausgleichen würde. Hält sie das Ergebnis oder gewinnt gar hinzu, hätte May ebenfalls mehr Schwierigkeiten mit Sturgeon.
... und für Nordirland?
Nordirland - und damit das ganze irische Brexit-Problem - scheint bei Mays Entscheidung kein großes Gewicht besessen zu haben. Dort ist erst Anfang März ein neues Regionalparlament gewählt worden, mit deutlichen Zugewinnen für die katholisch-nationalen Parteien Sinn Fein und SDLP. Die Aussicht auf einen Brexit, der wieder zu einer geschlossenen Grenze zur Republik Irland führen könnte, mobilisierte die katholische Minderheit. Deren Situation ist in den vergangenen Jahren durch die offene Grenze besser geworden. Das stützte den Friedensprozess in der einstigen Bürgerkriegsprovinz. Der ist nun jedoch gefährdet.
Die Neuwahl des britischen Unterhauses fällt ausgerechnet in die Phase, in der die nordirischen Parteien nach der Regionalwahl die Regierungsbildung verhandeln müssen. Das ist ein komplizierter Prozess. Die Unionisten, die nordirischen Verbündeten der Konservativen und bislang stärkste Partei in Nordirland, könnten bei einem weiteren Rückschlag zu einer härteren Linie zurückfinden. Dann würde sich für May wohl eine weitere innenpolitische Front auftun, welche auch die Gespräche mit der EU belasten könnte.