Rekordanstieg bei Arzneiausgaben: Teure Tabletten
Im vergangenen Jahr sind die Arzneikosten so explodiert, dass Krankenkassen bereits um das Solidarsystem fürchten. Ins Geld gehen vor allem neue Medikamente, für die einzelne Hersteller hemmungslos abkassieren.
Den Krankenkassen laufen die Arzneikosten aus dem Ruder. Im vergangenen Jahr erhöhten sie sich um 3,3 Milliarden auf 35,4 Milliarden Euro – das ist ein Anstieg von 10,3 Prozent. Und er beruht vor allem auf gesetzlichen Veränderungen und den extrem hohen Preisen, die von der Pharmaindustrie für einige wenige neue Arzneimittel verlangt werden. Die Zahl der Verschreibungen nämlich hat im selben Zeitraum kaum zugenommen, wie dem neuen Arzneiverordnungsreport der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu entnehmen ist.
420 Millionen Euro für ein einziges Arzneimittel
Nur sechs Arzneigruppen verursachten Mehrkosten von 2,1 Milliarden Euro, sagte der Pharmakologe Ulrich Schwabe am Mittwoch bei der Präsentation seiner Studie in Berlin. Insbesondere antivirale Mittel, neue hochwirksame Präparate gegen Arthritis und Krebsmedikamente trieben die Ausgaben hoch.
So schlug ein einziges neues Arzneimittel, das Medikament Sovaldi gegen Hepatitis C, allein mit 424 Millionen Euro zu Buche. Und ein Präparat gegen Multiple Sklerose sorgte für Zusatzkosten von mehr als 200 Millionen Euro, obwohl sich nachträglich herausstellte, dass es gar nicht besser war als bisherige, weit günstigere Mittel.
Keine Kostenbremse im Jahr der Markteinführung
Bei patentgeschützter Arznei, so rechnete Schwabe vor, stiegen die Kosten pro Verordnung im Schnitt um rund 25 Prozent. Das liege daran, dass neue Präparate im ersten Jahr keiner Kostenbremse unterlägen, sagte Martin Litsch, der kommissarische Chef des AOK-Bundesverbandes. Mit Blick auf Hepatitis-C-Mittel, Krebsmedikamente und angekündigte Innovationen zur Behandlung von Demenz stehe man „vor Kostendimensionen, die das Solidarsystem in seinen Grundfesten sprengen“ könnten, warnte er.
Dass für eine Tablette, wie im Fall Sovaldi, 700 Euro verlangt würden, sei jedenfalls „mit keiner Produktaufwendung zu rechtfertigen“. Wenn man sich nicht auf faire Preise einige, gebe es nur zwei Szenarien: höhere Zusatzbeiträge für die Beitragszahler oder Rationierung. Beides könne man nicht wollen.
Experte kritisiert "pharmafreundliches Klima" in der Koalition
Die Kostenexplosion sei allerdings auch dem „pharmafreundlichen Klima der großen Koalition“ geschuldet, merkte Schwabe an. So hätten die Regierenden die Nutzenbewertung für bereits auf dem Markt befindliche Medikamente „auf Druck der Pharmaindustrie“ gestoppt. Und wenn sie den Herstellerabschlag auf Arznei ohne Festbetrag nicht von 16 auf sechs Prozent gesenkt hätten, wäre bei der GKV auch noch eine Milliarde Euro mehr in der Kasse.
Zwar sehen die Herausgeber des jährlichen Reports auch wirksame Kostenbremsen - etwa durch die Rabatterlöse bei Nachahmermedikamenten (Generika), die sich 2014 auf insgesamt 3,2 Milliarden Euro beliefen. Und durch das Arzneimittelneuordnungsgesetz (Amnog) der schwarz-gelben Vorgängerregierung mit seinen Regelungen zu Nutzenbewertung und daran orientierten Preisverhandlungen seien auch bei patentgeschützter Arznei 443 Millionen Euro gespart worden.
46 neue Medikamente in einem Jahr
Dennoch boome der Pharmamarkt und führe mit der neuen Preispolitik im Patentmarkt die Solidargemeinschaft der GKV langfristig an finanzielle Grenzen, sagte Schwabe. So seien niemals zuvor in einem Jahr 46 neue Arzneimittel auf den Markt gebracht worden. Das seien fast doppelt so viele wie im Vorjahr.
2014 sei ein "atypisches Jahr" gewesen, argumentiert dagegen der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (Vfa). Rund die Hälfte des Kostenanstiegs gingen auf "einmalige Sondereffekte" zurück, sagte Geschäftsführerin Birgit Fischer - nämlich auf die seit langem geplante Rückführung des Mengenrabattes, die Zunahme der Versichertenzahl (um rund 430 000) sowie auf die erhöhte Apothekenvergütung. Die andere Hälfte sei in "bedeutende therapeutische Innovationen" geflossen.
Lauterbach: Arzneimarkt wird die Politik 2016 wieder beschäftigen
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, kündigte an, die Koalition Anfang nächsten Jahres erneut mit den Arzneikosten zu beschäftigen. Es sei zu klären, ob der Bestandsmarkt weiter von der Nutzenbewertung ausgeschlossen bleiben könne, sagte er. Zudem werde man prüfen, ob bei neuen Arzneimitteln, deren Preis sich später als zu hoch erweise, Rückforderungen möglich seien.
"Wenn die Pharmakonzerne das Gesundheitswesen zum Selbstbedienungsladen machen, um den Aktionären hohe Dividenden zu sichern, darf die Politik nicht länger wegschauen", sagte Kathrin Vogler, die Sprecherin für Arzneimittelpolitik und Patientenrechte der Linkenfraktion. Auch sie plädierte dafür, den rabattierten Preis, den die Pharmaunternehmen nach dem ersten Jahr mit den Krankenkassen aushandeln, rückwirkend auch für die ersten zwölf Monate gelten zu lassen.
Linke fordert "Patente in öffentlicher Hand"
Gleichzeitig forderte sie, den Preis bei den "wenigen wirklich innovativen Medikamenten" allein an den Aufwendungen für Forschung und Entwicklung und nicht an den Renditeerwartungen der Aktionäre auszurichten. Patente in öffentlicher Hand könnten eine wirksame Antwort sein, um die Krankenkassen dem "Würgegriff der Pharmakonzerne" zu entziehen, sagte sie - und forderte, im Rahmen der Haushaltsberatungen 500 Millionen Euro "für eine herstellerunabhängige Forschung bereitzustellen".