Medikamente: Wie Scheininnovationen die Preise nach oben treiben
Viele neue Medikamente haben keinen Nutzen, kosten die Krankenkassen aber bis zu vier Milliarden Euro - zeigt der Arzneimittelreport der Barmer GEK.
Für neuartige Medikamente ohne echten Zusatznutzen gibt die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) Jahr für Jahr Milliardensummen aus. 20 bis 30 Prozent aller Krankenkassenausgaben entfielen auf so genannte Scheininnovationen, sagte der Vizechef der Barmer GEK, Rolf-Ulrich Schlenker, bei der Präsentation des Arzneimittelreports seiner Kasse am Dienstag in Berlin. Diese Medikamente seien „überflüssig und teuer“, dabei hätten sie für Patienten, die auf bessere Behandlung hofften, „keinen erkennbaren Mehrwert“. Und wenn man ihnen stattdessen gleichwertige Nachahmerpräparate verordne, ließen sich im Jahr drei bis vier Milliarden Euro sparen.
Pro Packung kosteten Scheininnovationen im Schnitt fast 126 Euro, rechnete der Bremer Pharmaexperte und Mitverfasser der Studie, Gerd Glaeske, vor. Bei Nachahmerpräparaten, die man genauso gut und „ohne Qualitätsverlust“ einsetzen könne, komme man gerade mal auf 26 Euro. Allein bei der Barmer GEK machten die „in jeder Beziehung unnötigen Arzneimittel“ 3,5 Millionen Packungen aus.
Kosten und Nutzen werden nicht untersucht, klagt die Barmer GEK
Helfen könnte gegen diese Mittelverschwendung eine konsequente Kosten-Nutzen-Bewertung aller auf dem Markt befindlichen Medikamente. Doch die schwarz-rote Koalition hat von diesem Vorhaben aufgrund der Proteste aus der Pharmaindustrie und des befürchteten Aufwands wieder Abstand genommen. Getestet und entsprechend preisreguliert werden auch künftig nur die nach dem Jahr 2009 eingeführten Präparate. Ein Fehler, wie Glaeske meint. Und zwar nicht nur, weil sich durch die Einbeziehung des Bestandsmarktes bei den Arzneiausgaben zehnmal so viel sparen lasse wie bisher. Der Rückzieher gehe auch auf Kosten der Arzneimittelsicherheit.
Als Beispiel nannte Glaeske die Risiken durch neue, aber bereits im Markt befindliche Medikamente zur Blutverdünnung, die dringend einer Schaden-Nutzen-Bewertung bedürften. Anders als bei bewährten Produkten wie Marcumar fehlten bei diesen Antikoagulanzien wie etwa dem Bayer-Medikament Xarelto nämlich Gegenmittel zur Stillung unerwünschter Blutungen. Für die Patienten könne das tödlich enden, sagte Glaeske und appellierte an die Ärzte, diese Mittel „nur gezielt und nicht in der Breite“ zu verordnen. Tatsächlich liegt der Verordnungsanteil für Xarelto in Deutschland bereits bei 18 Prozent, der Umsatz damit stieg binnen eines Jahres von 92,7 auf 282,2 Millionen Euro Und weil die neuen Produkte deutlich teurer sind, entfielen im vergangenen Jahr auf sie schon knapp 87 Prozent der Ausgaben für Blutverdünner.
Warum die Kassenvertreter das "Übernahmefieber" in der Branche beunruhigt
Besonders gern verschrieben werden die angeblich innovativen Medikamente, so ergab die Studie, von ostdeutschen Ärzten. Offenbar gebe es dort diesbezüglich ein starkes Nachholbedürfnis, sagte Glaeske. Gefördert werde solche Verordnungsfreudigkeit dann noch durch ganz gezieltes Marketing der Hersteller.
Bedenklich gestiegen sei auch die Verordnung sogenannter Protonenpumpenhemmer gegen Magenbeschwerden, heißt es in dem Report. In bestimmten Altersgruppen erhielten inzwischen fast 40 Prozent aller Patienten solche Präparate – „oftmals unkritisch im Rahmen einer generellen Prophylaxe und ohne ausreichende Nutzen-Schaden-Abwägung“. Dabei sei die längerfristige Einnahme solcher Mittel keineswegs risikofrei.
Bayer kauft in den USA zu, Pfizer will einen Konkurrenten übernehmen
Neben den Kostensteigerungen durch fragwürdige Innovationen beunruhigt Kassenvize Schlenker aber noch anderes: das „Übernahmefieber“ in der Pharmabranche. Als Beispiele nannte er den milliardenschweren Zukauf von Bayer in den USA, die Bemühungen von Pfizer, sich den Rivalen AstraZeneca einzuverleiben, sowie das Tauschgeschäft zwischen Novartis und Glaxo-Smithkline, bei dem sich Erstere das Geschäft mit Krebsarznei und Letztere das mit Impfstoffen sicherten. Letztlich hätten die Aufkäufe zur Folge, dass es weniger Wettbewerb gebe, dass weniger geforscht werde und dass es aufgrund der Spezialisierung langfristig auch zu Lieferengpässen kommen könne. Er wundere sich, dass die Politik das so laufen lasse, sagte Schlenker und appellierte an die Kartellbehörden, „diese fragwürdige Entwicklung im Blick zu behalten“.
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