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Wo Mangel zum Alltag gehört. Millionen Syrer wissen nicht, woher ihre nächste Mahlzeit kommen soll.
© WFP
Update

Millionen verarmen: Syrien hungert

Krieg, Wirtschaftskrise und Corona: Die Not im Land wird immer größer. Die UN und die EU versuchen nun, Hilfe in Milliardenhöhe zu sammeln.

In Syrien wird für einige Menschen ein wenig Gemüse zum Luxusgut. Eigentlich könne er sich keine Tomaten mehr leisten, sagte der 65-jährige Khalil al Falah vor Kurzem den Helfern vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Nur manchmal komme er an ein halbes Kilo heran. Dann macht Falah ein Festessen daraus – mit Salz und einem Stück Brot.

Die Folgen von mehr als neun Jahren Krieg, eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Pandemie verbinden sich in Syrien zu einer wachsenden humanitären Katastrophe. Bei einer per Internet abgehaltenen Geberkonferenz der EU für Syrien forderten die Vereinten Nationen am Dienstag deshalb bis zu zehn Milliarden Dollar an Hilfe für die Menschen in dem Bürgerkriegsland und für Flüchtlinge außerhalb Syriens.

Hilfsorganisationen schlagen schon seit Wochen Alarm. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) warnt vor einer der bisher größten Hungerkrisen im Land.

Das syrische Pfund verliert als Währung dramatisch an Wert

Mehr als die Hälfte der rund 21 Millionen Syrer sind nach UN-Schätzungen bereits auf Hilfe angewiesen, mehr als neun Millionen haben nicht mehr genug zu essen. Viele Kinder haben bleibende Schäden wegen der Mangelernährung. WFP-Experten gehen davon aus, dass allein in den vergangenen sechs Monaten die bis dahin einigermaßen sichere Nahrungsmittelversorgung für 1,4 Millionen Menschen zusammengebrochen ist.

Ein rasanter Kursverfall des syrischen Pfundes und neue US-Sanktionen gegen das Assad-Regime in Damaskus verschärfen die Lage für die Hilfsbedürftigen dramatisch.

Brot ist für viele Syrer zum Luxusgut geworden.
Brot ist für viele Syrer zum Luxusgut geworden.
© Omar Haj Kadour/AFP

Die Krise lässt die Preise für Lebensmittel in die Höhe schnellen und beschleunigt die Abwärtsspirale aus Hunger und Armut. Alltagsgüter kosten heute bis zu 200 Prozent mehr als vor einem Jahr. Für die meisten Familien sind Brot, Obst und Gemüse damit unerschwinglich.

Sie müssen deshalb schwierige Entscheidungen treffen: Mahlzeiten auslassen, Portionen reduzieren, ihren letzten Besitz für sehr wenig Geld verkaufen und sich verschulden, um über die Runden zu kommen. Vier von fünf Syrern müssen mit weniger als 1,70 Euro pro Tag auskommen und leben damit unterhalb der internationalen Armutsgrenze.

Müssen die Lebensmittelrationen der UN gekürzt werden?

WFP-Chef David Beasley sagte dem Tagesspiegel, derzeit stelle seine Organisation monatlich Hilfe für mehr als 4,5 Millionen Syrerinnen und Syrer bereit. „Aber wir brauchen 200 Millionen Dollar, um sie alle wenigstens bis zum Ende des Jahres weiterhin zu erreichen. Ohne neue Finanzmittel bis August werden wir die Rationen kürzen und die Zahl der Menschen, die wir erreichen, reduzieren müssen.“

Im Nordosten des Landes, wo Rebellen in der Provinz Idlib die letzte Hochburg der Aufständischen gegen die Truppen von Präsident Baschar al Assad verteidigen, drängen sich drei Millionen Menschen. Viele von ihnen leben unter schwierigsten Bedingungen in Flüchtlingslagern entlang der geschlossenen türkischen Grenze.

Die Corona-Pandemie verschärft die Krise.
Die Corona-Pandemie verschärft die Krise.
© RKhalil Ashawi/Reuters

Keine Lösung für eine politische Lösung in Sicht

Eine politische Lösung für den Konflikt ist nicht in Sicht. Assads Partner Russland versucht derzeit, Hilfslieferungen in Rebellengebiete zu unterbinden, um Versorgungsgüter über das von Assad beherrschte Gebiet verteilen zu können. Das würde die Menschen in Idlib zu Geiseln des Regimes machen.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog . Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Zugleich wächst die Gefahr durch Corona. Zwar ist die offizielle Zahl der Infektionen mit 269 Fällen und neun gestorbenen Patienten sehr niedrig. Doch erstens bestehen erhebliche Zweifel daran, dass diese Ergebnisse die wahren Verhältnisse widerspiegeln.

Zweitens wären besonders die Menschen in den Flüchtlingscamps und zerstörten Städten einem massiven Ausbruch von Covid-19 schutzlos ausgeliefert. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass mehr als die Hälfte der staatlichen Kliniken nicht mehr arbeiten können. Viele Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern sind geflohen.

Die Gefahr durch das Virus sei akut, sagte auch der UN-Syrienbeauftragte Geir Pedersen am Dienstag bei der Geberkonferenz in Brüssel, die Vertreter von 60 Regierungen zusammenbrachte. Pedersen schilderte „Verletzungen, Vertreibungen, Zerstörungen und Terror“, unter denen die Zivilisten leiden.

Bei der Konferenz wollten die Vereinten Nationen rund vier Milliarden Dollar für die Hilfe in Syrien selbst und weitere sechs Milliarden zur Unterstützung syrischer Flüchtlinge im Ausland zusammenbringen. Deutschland sagte bei der Konferenz knapp 1,6 Milliarden Euro zu. Obwohl die Gesamtsumme am Ende mit 7,7 Milliarden Dollar unter der angestrebten Marke blieb, zeigten sich UN-Vertreter zufrieden, weil sich die Geberländer derzeit den Ausgaben für die Corona-Pandemie Priorität einräumen. Im vergangenen Jahr hatte die UN sieben Milliarden Dollar an Hilfsgeldern erhalten.

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