Kritik an Kramp-Karrenbauer: Eine UN-Blauhelmmission ist die beste Lösung für Syrien
Der Syrien-Plan von Annegret Kramp-Karrenbauer verkennt die kritische Lage vor Ort. Nun sind die Vereinten Nationen gefragt. Ein Gastbeitrag.
Detlef Dzembritzki ist Bundesvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN)
Der Vorschlag von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, eine „Sicherheitszone“ in Nordsyrien einzurichten, sorgte am Anfang der Woche für internationale Verwunderung und nationale Irritationen. Anlass dieser Forderungen ist die gegenwärtige katastrophale Lage in Nordsyrien. Mit Beginn der jüngsten völkerrechtswidrigen Offensive der türkischen Armee und ihrer Verbündeten am 9. Oktober 2019 befinden sich mittlerweile mehr als 300.000 Menschen auf der Flucht. Gleichzeitig bedeutet der türkische Einmarsch eine Unterbrechung von Hilfslieferungen an die ohnehin schon 1,65 Millionen Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg in den vermeintlich sicheren Nordosten des Landes geflohen waren.
Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte erklärte, dass türkische Truppen und ihre verbündeten Gruppierungen auch die zivile Infrastruktur, beispielsweise die Wasserversorgung, angreifen würden. Unterdessen sind bereits Kämpfer des Islamischen Staats (IS) aus kurdischen Gefängnissen geflohen und könnten die Region weiter destabilisieren. Das alles passiert vor den Augen Europas.
Die Interessen der Konfliktparteien bilden eine komplexe Gemengelage: Die Türkei begründet ihre Intervention mit einer terroristischen Bedrohungslage durch die kurdische YPG und die Verhinderung eines kurdischen Nachbarstaats. Syrien missbilligt den militärischen Einmarsch der Türkei und Russland hat ein Interesse daran, die territoriale Integrität Syriens unter Präsident Baschar al-Assad wiederherzustellen sowie gleichzeitig den islamistischen Terrorismus in der Region zu bekämpfen.
Russland und Syrien würden die Präsenz der Nato niemals akzeptieren
Zwar forderte Kramp-Karrenbauer ein UN-Mandat für einen Einsatz in der Region, doch der Vorschlag der Bundesverteidigungsministerin bleibt leider sehr unkonkret und verkennt die kritische Lage vor Ort. Zusätzlich übernimmt sie mit dem Begriff der Sicherheitszone lediglich das wenig erhellende Vokabular des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Richtig ist, dass nur eine internationale Schutzzone für die Bevölkerung vor Ort eine Antwort ist, um den Konflikt zu entschärfen. Dies sollte die oberste Priorität der internationalen Gemeinschaft sein. Eine Nato-geführte Mission in dieser Region wäre nicht zielführend, geschweige denn würde sie von den Konfliktparteien mitgetragen. Insbesondere Russland und Syrien würden die Präsenz der Nato in diesem Grenzgebiet niemals akzeptieren.
Daher kann es nur eine internationale Organisation geben, die für die Einrichtung einer Schutzzone infrage kommt: die Vereinten Nationen. Nur die UN verkörpern die notwendige Überparteilichkeit und Glaubwürdigkeit, die in dieser Region so sehnlichst benötigt wird. Die internationale Gemeinschaft sollte sich auf eine klassische UN-Friedensmission verständigen, die alle Konfliktparteien trennt und eine neutrale Pufferzone schaffen kann.
Die Zustimmung der Konfliktparteien vorausgesetzt, können derartige Missionen durch ihre Überparteilichkeit und die Anwendung von Gewalt nur zur Selbstverteidigung und Ausführung ihres Mandats eingesetzt werden, um notwendigen politischen Prozessen Zeit zu erkaufen. Die UN haben damit zahlreiche Erfahrungen, entstand die erste militärische UN-Friedensmission Unef I bereits während der Suezkrise 1956. Sie überwachte den Waffenstillstand und Rückzug der Konfliktparteien Ägypten auf der einen und Frankreich, Großbritannien mit Israel auf der anderen Seite.
Ähnlich wie auch UN-Blauhelmsoldaten bereits auf den Golanhöhen zwischen Israel und Syrien im Rahmen der Undof-Mission einen Sicherheitskorridor geschaffen haben, könnte dies auch für Nordsyrien ein erstrebenswertes Modell sein.
Der Sicherheitsrat ist zur Lage in Syrien zutiefst gespalten
Dabei müsste eine solche Mission ein Mandat des UN-Sicherheitsrats mit dem Auftrag erhalten, einen neutralen, nicht-militarisierten Korridor zu schaffen und damit alle Konfliktparteien voneinander zu trennen – inklusive der YPG und der türkischen Armee sowie ihrer Verbündeten –, die Zivilbevölkerung zu schützen sowie die humanitäre Katastrophe einzudämmen.
Eine solche Mission würde eine wesentlich höhere Akzeptanz erzielen, als eine Nato-Mission dies jemals könnte. Und auch die vorläufige Einigung zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und Recep Erdogan über die Zukunft Syriens kann darüber nicht hinweg täuschen.
Wie kann ein derartiges Mandat im UN-Sicherheitsrat für eine UN-Blauhelmmission erreicht werden? Der Sicherheitsrat ist zur Lage in Syrien nach wie vor zutiefst gespalten: Russland und China als die Unterstützer der syrischen Regierung auf der einen und die übrigen 13 Staaten auf der anderen Seite, die sich im Rat für eine verstärkte humanitäre Hilfe und politische Reformen im Land einsetzen.
Bevor es zu konkreten Abstimmungen im Sicherheitsrat für eine Blauhelmmission überhaupt kommen kann, sollte die Bundesregierung ihren gegenwärtigen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat nutzen, um UN-Generalsekretär António Guterres zu einer politischen Vermittlung zu ermutigen. Zusammen mit den im Rat vertretenen europäischen Staaten Frankreich, Großbritannien, Belgien und Polen sowie innerhalb der Europäischen Union könnten sie Guterres bei einer langfristigen und alle Parteien einschließenden Waffenstillstandsvereinbarung zwischen der Türkei, Syrien, Russland, aber auch unter Einbeziehung der Kurden, unterstützen.
Den wachsenden Einfluss Russlands in Syrien konstruktiv nutzen
Das Ziel der Vermittlung durch Guterres zusammen mit seinem Sondergesandten für Syrien, Geir Pedersen, sollte ein längerfristiger Waffenstillstand zwischen allen Konfliktparteien sein. Dieser wäre dann die Grundlage für ein Mandat des UN-Sicherheitsrats zur Überwachung dieses Waffenstillstands durch Blauheimsoldaten.
Bislang heißt es, dass António Guterres am 31. Oktober zu einer geplanten Mediationskonferenz nach Istanbul reist. Dies wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit, um mit Präsident Erdogan erste Vereinbarungen zu treffen und damit die Befriedung der Lage in Norden Syriens zur Chefsache zu erklären – unterstützt von europäischen und anderen Staaten aus der Region.
Eine UN-Blauhelmmission wäre somit durchaus denkbar. Der Sicherheitsrat muss die Überparteilichkeit dieser Mission gewährleisten. Nur so könnte der Konflikt entschärft werden. Die von Deutschland und Frankreich geführte „Allianz für den Multilateralismus“ sollte den UN-Generalsekretär bei seinen Bemühungen für eine regelbasierte Ordnung und Wahrung des Völkerrechts unterstützend zur Seite stehen.
Wichtig ist aber auch: Mittelfristig wird kein Weg daran vorbeiführen, den wachsenden Einfluss Russlands in Syrien konstruktiv zu nutzen, um gemeinsam mit der EU in dieser für beide so wichtigen Nachbarschaftsregion eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit für den Nahen und Mittleren Osten unter Vermittlung der UN anzustoßen – vergleichbar mit dem „Helsinki-Prozess“ für Europa während des Ost-West-Konflikts. Das ist die internationale Gemeinschaft den Menschen in dieser von Konflikten gebeutelten Region schuldig.
Detlef Dzembritzki