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Ein Jahr danach: Straßeszene vor einer U-Bahn-Station in Stockholm-Husby
© dpa

Schweden: Stockholms Problemviertel hilft sich selbst

Vor einem Jahr erschütterten Krawalle im Stockholmer Problemviertel Husby das Land. Jetzt tut sich etwas - wenn auch noch langsam.

Der soziale Sprengsatz ist noch längst nicht entschärft, doch es gibt auch positive Signale. Ein Besuch „Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Hier sind wir gefragt“, sagt Abdullahi Yusuf. Als einer der „Nachtwanderer“ sucht der gebürtige Somalier an Wochenenden regelmäßig das Gespräch mit Jugendlichen an Brennpunkten im Stockholmer Problemviertel Husby, das Ende Mai 2013 weltweit für Negativ-Schlagzeilen sorgte. Nach dem Tod eines 69-Jährigen, den ein Polizist aus Notwehr erschossen hatte, brannten in Husby mehrere Nächte hintereinander Autos, eine Schule und ein Kindergarten gingen in Flammen auf, Jugendliche warfen Steine, zertrümmerten Scheiben. Die Krawalle griffen auf mehrere schwedische Städte über.

Inzwischen gibt es einen Stadtteilrat

Ein Jahr später ist der soziale Sprengstoff längst nicht entschärft. Doch es gibt auch Hoffnung. Initiativen von Bürgern, die infolge der Gewaltausbrüche gestartet wurden, zeigen erste Erfolge. Denn so wie Yusuf sind viele Einwohner seit langem ehrenamtlich aktiv. Jetzt haben sie sich ein neues Gremium geschaffen: den Stadtteilrat für Nord-Järva, das Gebiet, in dem Husby liegt. Das im Februar gegründete Gremium, dem Einzelpersonen, Netzwerke und Vereine angehören, will die Interessen der Bürger mit mehr Nachdruck vertreten, wenn es um Fragen wie Jobs, Wohnungen und Schule geht.

Viele Jugendliche fühlen sich nicht gebraucht

Die Zeit drängt. Ein Blick in die Stockholmer Statistik weist Husby, dessen rund 12 000 Einwohner zu 85 Prozent Wurzeln im Ausland haben, als betrüblichen Beleg für harte soziale Trennlinien in der schwedischen Hauptstadt aus. Hier wohnt man beengter und ist häufiger krank als in den meisten anderen Stadtteilen. Die Quote der Erwerbstätigen unter den 20- bis 64-Jährigen lag Ende 2011 bei gerade mal 55,5 Prozent, im Vergleich zu knapp 78 Prozent in Stockholm insgesamt. Mehr als jeder Dritte der 20- bis 25-Jährigen hat weder Ausbildungsplatz noch Job.
„Viele Jugendliche fühlen sich nicht gebraucht“, sagt Inga Harnesk, seit Jahrzehnten stolze Bewohnerin von Husby und eine der Triebkräfte hinter dem neuen Rat, zu dem aus ihrer Sicht vordringlichsten Problem des Stadtteils. Nach den Krawallen seien die Politiker hellhöriger für Vorschläge der Einwohner geworden. Und tatsächlich, der Dialog trägt Früchte: So wird die seit Jahren leer stehende Dalhags-Schule, die ursprünglich breiteren Straßen weichen sollte, doch nicht abgerissen. Stattdessen richtet der renommierte Stockholmer Jugendklub „Fryshuset“ mithilfe der Stadt in dem Haus eine Filiale ein und hat schon einige junge Leute aus dem Wohngebiet angestellt.

Die Lage bleibt ein Jahr danach explosiv

Freilich ein Tropfen auf den heißen Stein in Husby, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft Schwedens „Silicon Valley“ liegt: Kista – ein riesiges IT-Zentrum mit Universitäten und zehntausenden Arbeitsplätzen. Doch das Interesse für das Schweden außerhalb Husbys hält sich bei vielen Einwohnern in Grenzen. „Das Einzige, was Kinder und Eltern hier von Kista kennen, ist das Shoppingcenter Kista Galleria. Ich finde das erschreckend“, sagt Mohamed Hagi Farah von der „Elternallianz für Järva“. Vor einem Jahr gehörte der gebürtige Somalier zu denen, die nachts zu den Jugendlichen auf die Straße gingen und Klartext darüber redeten, dass Frust kein Freibrief für Gewalt sein kann.
Die Lage bleibt explosiv. Mehrfach haben Gruppen 13- bis 14-Jähriger in jüngster Zeit bettelnde Roma im Shoppingcenter mit Steinen und Flaschen angegriffen. Die Aufklärung verläuft im Sande. In der Zusammenarbeit mit Eltern und Sozialbehörden müsse sich die Polizei stärker schon auf 12- bis 13-Jährige statt wie bisher auf 16- bis 17-Jährige konzentrieren, sagt Erik Hasselrot, der Polizist in Husby ist. Angesichts knapper Ressourcen hofft er auf die Hilfe der 50 Kollegen, die seit April im benachbarten Rinkeby und Tensta zusätzlich Dienst tun. „Wenn wir mit nur einem Einsatzwagen unterwegs sind und mit Steinen und Flaschen beworfen werden – und das passiert recht oft –, müssen wir zu unserer eigenen Sicherheit schlicht abhauen.“

Kein Abschluss, kein Job, keine Zukunft

Elternvertreter Farah gibt die Hoffnung nicht auf. Er hält fest an seiner Vision vom Internet-Eldorado Kista, das Mitarbeiter aus Husby und Umgebung statt aus Indien und Japan holt. Zurück in die Realität stößt ihn allerdings Jahr für Jahr der Bericht der Schulbehörde über den Anteil der Neuntklässler, die die Husbygård-Schule ohne Abschluss verlassen. 56 Prozent waren es 2013. Keine andere Zahl bringt Farah Husbys Dilemma so auf den Punkt: kein Schulabschluss – kein Job – keine Zukunft. Wer ist schuld? Das Lernen sei natürlich Sache jedes einzelnen Schülers, doch die Eltern spielten für den Schulerfolg der Kinder eine entscheidende Rolle, betont Farah. Vielen von ihnen falle aber, nicht zuletzt aufgrund von Sprachproblemen, das Engagement für die Schularbeit der Kinder schwer. Dass Schwedens Schulsystem ungünstige Startbedingungen wie diese nicht auszugleichen vermag, hat die jüngste Pisa-Studie deutlich gemacht. Und auch Finanzspritzen helfen wenig: Neben dem Schulgeld von knapp 7000 Euro, die die Stadt an jede Schule pro Neuntklässler zahlt, erhielt die Husbygård-Schule 2013 pro Schüler zusätzlich 3500 Euro.

Doof bleibt doof - das lässt der Elternvertreter nicht gelten

In der Äppelvik-Schule im begüterten Bromma, wo es nur 180 Euro extra gab, schafften 96 Prozent in allen Fächern den Abschluss, im Gegensatz zu Husby mit seinen 44 Prozent. „Warum fließen die Gelder Jahr für Jahr, ohne dass man analysiert, was schiefläuft?“, fragt Farah. Das Argument „Doof bleibt doof“ lässt er nicht gelten: Als die Elternallianz zwischen 2004 und 2006 unter Schülern und Eltern mithilfe der Stadt eine Großaktion zur Hausaufgabenhilfe organisierte, stieg in der ebenfalls kriselnden Rinkeby-Schule der Anteil erfolgreicher Schulabschlüsse von 59 auf 73 Prozent.
Hausaufgabenhilfe und die Unterstützung von Eltern sind derzeit die Hauptarbeitsfelder zahlreicher freiwilliger Kräfte. Um Fragen wie Finanzbeihilfen der Stadt für diese Arbeit, einen Mehrgenerationen-Treffpunkt und kombinierte Job- und Ausbildungsplätze für junge Erwachsene ohne Schulabschluss wird es am 24. Mai gehen, wenn der neue Stadtteilrat zu einem „Tag für Husby und Järva“ einlädt. Neben Seminaren und Foren mit Politikern steht viel Kultur auf dem Programm, nicht zuletzt made in Husby. Noch seien Husbys „gute Kräfte“ füreinander zu wenig sichtbar, sagt Inga Harnesk. „Das muss anders werden.“

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