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Brennende Autos in Husby, wo die Unruhen begannen.
© AFP

Unruhen in Stockholm: Warum es zum großen Wutausbruch kam

Tagelang brannten Autos, flogen Steine, Jugendliche zündeten Häuser an. Das Erschrecken ist so groß wie die Ratlosigkeit: Wie konnte es in einem so wohlgeordneten Land dazu kommen?

Von Katja Demirci

Um seinen Kopf fliegt, wie feiner Schnee, ein bisschen Asche, mit jedem Windstoß mehr. Das Gebäude hinter ihm war einmal ein schönes, rotes schwedisches Holzhaus, außerdem sein Atelier, eine Werkstatt, die er sich mit anderen Künstlern teilte. Die Holzbalken sind nur noch Kohle, aus der sich die kleinen grauen Flöckchen schälen. Es riecht nach Feuer.

In seinen Händen hält Shakir Attiyah, 56 Jahre alt, Maler und Bildhauer, Werkzeug. Er räumt auf und rettet, was zu retten ist. Eine seiner Installationen blieb vom Feuer verschont. Sie steht unbeschadet auf einer Werkbank. Eine weiße Holzplatte, darin fein ausgesägt die Silhouetten zweier Tauben. Ausgerechnet.

Vor gut zehn Tagen begann Krieg in Husby, einem Vorort nordwestlich von Stockholm. Zumindest sah es so aus. Autos brannten, Steine flogen in Richtung Polizei und Feuerwehr. Zuvor war passiert, was ein Auslöser sein könnte, vermutlich aber kein Grund: Ein 69-Jähriger war von der Polizei erschossen worden. Er hielt ein Küchenmesser in der Hand, angeblich war er verwirrt. Die Polizei sagte, es sei Notwehr gewesen, aus dem Messer wurde in den Zeitungen eine Machete, und in Husby sammelten sich Menschen zu einer Demonstration gegen Polizeigewalt. Sie eskalierte. In einem reichen Bezirk der Stadt, sagten die Demonstranten, wäre der Mann nie erschossen worden. In einem Bezirk voller Schweden, ohne Einwanderer, nicht so wie hier. Die Polizei griff ein.

Nacht für Nacht wurde randaliert, bald auch in anderen Vororten der Hauptstadt und in anderen Teilen des Landes. Mehr als 150 Autos sollen seit dem 20. Mai gebrannt haben, Gebäude, Mülltonnen, sogar Schulen. Es war, als wäre in Husby das Ende einer Lunte gezündet worden, die ziemlich langsam abbrannte.

Auch jenes Haus der Künstler- und Handwerkervereinigung haben sie angezündet, was erstaunlich ist, denn links und rechts gibt es nicht viel außer Wiese, Wald und noch ein paar mehr rote Holzhäuschen. Dieses eine anzuzünden war Willkür. Als es brannte, standen die Künstler hilflos da und weinten.

Wie viele Fensterscheiben zerbrochen wurden, hat niemand gezählt, und auch die Kunst von Shakir Attiyah und seinen Kollegen ist nur mehr eine Angelegenheit für die Versicherung, weniger für die Statistik. Der Sachschaden ist groß. Doch mit ihrer Wut zerschmetterten die Randalierer auch die gläsernen Wände, die Schwedens Vororte von den Innenstädten trennen. Mit einem Ruck fiel das Bild vom schönen und glücklichen Land herab, das wieder geradegerückt war nach Krawallen in Malmö vor wenigen Jahren. Und plötzlich schauen alle in eine Richtung. Erstaunt, erschrocken.

„Wir haben euch gewarnt“, schrieben die Mitglieder der Jugendorganisation „Megafonen“ in der Zeitung „Aftonbladet“. Davor, dass die Situation mal eskalieren könnte. „Aber unsere Rufe stießen auf taube Ohren.“ Jahrelang kämpften sie allein, arrangierten Hausaufgabenhilfe, Konzerte, Vorträge. Sie sind die Söhne und Töchter der Väter und Mütter, die nach Schweden einwanderten. Von denen der Rest dieser Gesellschaft vielleicht ganz froh war, dass sie sich in den Vororten aufhielten. Die man aus dem Blick verlor. Erst jetzt, schrieben sie, sind alle auf unserer Seite und suchen nach Lösungen. „Wo seid ihr vorher gewesen?“

11 000 Menschen leben in Husby, ungefähr 80 Prozent von ihnen haben Migrationshintergrund – und viele keine Arbeit. Unter den Jugendlichen bis 25 sind es etwa 38 Prozent. Manche haben schlechte Schulabschlüsse oder gar keine. Doch andere studieren.

Es gibt so viele Erklärungen wie Steinewerfer

Aus der Stockholmer Innenstadt fährt die U-Bahn etwa 20 Minuten bis raus nach Husby. Man gleitet über unendlich lange Rolltreppen hinauf ans Tageslicht, landet in Husby Centrum. Ein kleiner Platz mit Bäumen und Bänken. Schmale Wege führen zu den Wohnblöcken, hohe Häuser, die bunt angestrichen sind. Zwischen ihnen stehen Holzhäuser, mal ist darin eine Schule, mal ein Kindergarten, mal nur eine Waschküche. Es gibt Bolz- und Spielplätze – und viele Kinder. Gärtner fahren in kleinen Wagen durch die Gegend, Blumen blühen.

Es gibt diese Geschichte in Husby. Sie besagt, dass vor Jahren mal eine Gruppe amerikanischer Sozialarbeiter angereist kam. Sie ließen sich herumführen, schauten und nickten und verstanden nicht, wo das Problem liegen sollte: Es ist doch grün hier, sagten sie. Es ist doch sicher.

Ja, Husby ist schön. Es ist sauberer als die saubersten Ecken in Berlin-Neukölln und nicht annähernd so bedrohlich wie die schlechteren Teile von Manchester oder Detroit. Aber darum geht es ja nicht.

Einst gebaut als schmucke Satellitenstädte, wurde einigen von Stockholms Vororten das Konzept, den Bewohnern alle Annehmlichkeiten an einem Fleck zu bieten – Wohnen, Freizeit, Arbeit – über die Jahrzehnte zum Verhängnis. Dann nämlich, als viele Schweden wegzogen und die leeren Wohnungen mit Flüchtlingen und Einwanderern aufgefüllt wurden. Rund 30 000 Anträge auf Asyl werden jährlich in Schweden gestellt. Das Land, bekannt für seine liberale Einwanderungs- und Asylpolitik, versorgt die Angekommenen mit Sozialhilfe und überlässt sie dann weitgehend sich selbst. Der Satellit Husby verlor den Funkkontakt zur Hauptstadt.

Das Geld, das die Regierung wohlmeinend in die Umlaufbahn schoss, wurde weniger in den vergangenen Jahren. Stattdessen privatisiert sie – Sozialdienste, Schulen, Pflegedienste, Altersheime. Alles wurde ein bisschen teurer, und oft war ein bisschen schon zu viel. Einige der Jugendlichen, die heute hier leben, haben nicht einmal Geld für eine U-Bahn-Fahrt in die Innenstadt.

„Wollen wir spazieren gehen?“, fragt Inga Harnesk. Sie ist 82 Jahre alt, und zum Glück hat sie Zeit an diesem Nachmittag. Das ist nicht selbstverständlich, denn eigentlich ist sie immer beschäftigt. Seit sie in Husby lebt – und das tut sie immerhin seit 1974 – engagiert sie sich für den Ort und seine Bewohner, sie schreibt Beiträge für eine lokale Zeitung und ist im „Netzwerk für Järvas Zukunft“ aktiv. Järva ist der Bezirk, in dem Husby liegt. Als Harnesk herzog, verfolgte die schwedische Regierung das „Millionen-Programm“. Innerhalb von zehn Jahren sollten eine Million Wohnungen entstehen. „Es war ein schönes Legoland damals“, sagt Harnesk. Ein Wohnprojekt, vor allem für Familien.

Harnesk und ihre Mitstreiter vom Netzwerk haben dieses Projekt zu ihrem eigenen gemacht. Als der Husbytreff geschlossen werden sollte, ein Gemeinschaftsraum im Zentrum, hielten sie ihn aus Protest zwei Wochen lang besetzt. Sie durften ihn anschließend nicht behalten, aber immerhin: Sie bekamen einen neuen. Es gibt keinen Vorstand in ihrem Netzwerk und keine regelmäßigen Treffen. Trotzdem sind immer alle da, wenn es gegen Maßnahmen der Regierung geht, die niemand von ihnen einsieht. Und wenn doch ein paar fehlten, hängte Inga Harnesk Zettel in der Nachbarschaft auf: „Wo seid ihr denn alle?“

Inga Harnesk, eine große und schlanke Frau, marschiert schnellen Schrittes durch die Straßen von Husby. Es gibt, findet sie, ziemlich viel Schönes zu zeigen. Orte aus ihrer Vergangenheit, die Schule, in der sie als Sekretärin gearbeitet hat, ihre erste Wohnung. Kunst im Zentrum, in Stein eingravierte kleine Botschaften: „Liebe das Leben in Husby, wir tun es“, steht auf einer Treppenstufe. Oder: „Sei kein Gangster, bleib am Leben.“

Draußen zu leben, außerhalb der Stadt, war mal schick. Vom Balkon blickt Inga Harnesk auf einen Sportplatz und erzählt leise davon, dass es sich zu kämpfen lohnt für eine schöne Wohngegend. All die Jahre lang haben sie das im Netzwerk „mit viel Wut“ getan – aber immer friedlich. „Ich bin furchtbar enttäuscht von den Krawallen“, sagt sie. „Wir sind das nicht gewohnt, Protest so zu zeigen.“

In ihrem Wohnzimmer liegt Heinz Buschkowskys Buch „Neukölln ist überall“, sie hat es gerade auf Deutsch gelesen und bewundert, wie klar der Bezirksbürgermeister Probleme benennt. Neukölln ist vielleicht nicht überall, in Husby aber schon. Umso wichtiger, dass sie hier zusammenhalten. Jetzt, wo gerade alle Welt guckt. „Wir müssen jetzt alle zusammen nachdenken, Alte und Junge und aus allen Kulturen“, sagt sie.

„Was wir jetzt sehen“, sagte der konservative Regierungschef Fredrik Reinfeldt, „zeigt, dass wir noch mehr machen müssen.“ Mehr Förderklassen in den Schulen einrichten, zum Beispiel. Auf einmal zitierten alle eine OECD-Studie von 2011 über die „Ursachen steigender Ungleichheit“. Sechsmal höher sei das Durchschnittseinkommen der oberen zehn Prozent Schweden als das der unteren. Das Land driftet auseinander.

Er sagt: Schweden ist ein tolles Land. Nur einen Job findet er nicht

Die Jungs und Mädchen auf den Straßen von Husby haben das längst gewusst – nur hat sie niemand gefragt. Jetzt ist jede Feststellung eine Beleidigung, jede Frage eine Provokation. Ja, wir leben hier gerne, ja, wir haben Arbeit, nachts patrouillieren wir durch die Straßen, passen auf, dass keiner mehr zündelt. Einer, Abdi, ein schlaksiger Typ in Trainingsjacke, sagt: Schweden ist ein tolles Land. Nur einen Job findet er, 22, seit Jahren nicht. Trotzdem, Schweden ist besser als alles, was er vorher hatte: Krieg in Somalia.

Zwei Väter aus dem Iran beschweren sich, dass die Söhne und ihre Freunde keine Arbeit bekommen, wenn sie Nasrin heißen oder Mohammed und nicht Erik. Wir haben uns wie Gäste benommen, als wir kamen, vor etwa 30 Jahren, sagen sie. Aber unsere Kinder, das sind doch Schweden, die dürfen doch Ansprüche haben. Niemand befürwortet Krawall, das sagen sie alle. Aber sie sind nicht zufrieden mit dem Leben, das sie haben.

Inga Harnesk sagt: „Es gibt so viele Erklärungen für die Krawalle wie Steinewerfer.“

Arne Johansson, Sprecher vom Netzwerk für Järvas Zukunft, sagt: „Es ist eine soziale Frage hier, keine Frage der Einwanderung.“ Und doch ist das eine nur schwer vom anderen zu trennen – zumindest in der Folge. Längst haben die Rechtsextremisten im Land die Situation genutzt. Die Schwedendemokraten, seit 2010 im Parlament, hetzten mündlich. Die auf der Straße wurden aktiv: Ein paar von ihnen fuhren in die Vororte und begannen, Bewohner zu jagen.

Am Abend, als Arne Johansson auf den Platz an der U-Bahn-Station Husby kommt, ist es ruhig, ein paar Jugendliche sitzen auf Parkbänken und quatschen. Auch Johansson, 65 Jahre alt, lebt schon lange in Husby, wie Inga Harnesk. Sie haben gemeinsam protestiert, als die kleinen Fußgängerbrücken abgebaut werden sollten, die es so angenehm unkompliziert machen, die große Straße zu überqueren, die Husby der Länge nach durchschneidet. Man wollte, sagt Johansson, „aufregende Begegnungen zwischen Fußgängern und Autofahrern“ schaffen. Er lacht. Sie haben die Brücken besetzt, alle gemeinsam, und eine Feier daraus gemacht. Suppe essen auf der Brücke. Sie haben gewonnen.

Auch gegen ein großes Renovierungsprogramm des Staates konnten sie sich wehren, sieben Monate hat es damals gedauert, 2007, dann hatten sie abgewendet, was die Politik als Erneuerung des Viertels verkaufen wollte – und was sich niemand unter den Mietern hätte leisten können. Doch für jeden Plan, den sie erfolgreich bekämpfen, kommt ein neuer.

„Järvalyftet“ nennt die Regierung jenes Programm, das die Vororte in der Gegend aufhübschen soll. Järva anheben, heißt das übersetzt. Arne Johansson macht das wütend. Und Inga Harnesk sagt: „Wie soll man denn etwas von oben anheben? So was geht doch nur von unten.“ Und sie macht eine kleine Kniebeuge.

Am morgigen Samstag werden sie sich in Husby sammeln und einen Katalog zusammenstellen, wie sie sich die Zukunft vorstellen. Ein paar Maßnahmen zur Verbesserung von unten. 200 Jobs für Jugendliche bei der Stadt zum Beispiel. Für den Anfang.

Der Künstler Shakir Attiyah hat vor Jahren eine Installation gefertigt, an die erinnert er sich nun, da sein Atelier in Trümmern liegt. Sie zeigte zwei Jugendliche in einem Sumpf, wie sie versuchten, sich herauszukämpfen. „Bildung ist die Lösung“, sagt Attiyah. Wer zappelt und zetert, rutscht nur tiefer in den Morast.

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