Attentat in Norwegen: Stiefbruder von Mette-Marit unter Mordopfern
Der Anschlag von Anders Behring Breivik galt indirekt Oslos Regierungschef – und dem, was er repräsentiert. Zu den Opfern des Massakers auf der Insel Utöya gehört auch ein Stiefbruder der norwegischen Prinzessin Mette-Marit.
Der Stiefbruder der norwegischen Prinzessin Mette-Marit, der 51-jährige Polizist Trond Berntsen wurde erschossen, als er seinen zehnjährigen Sohn schützen wollte, berichtete die Zeitung „Dagbladet“ am Montag in ihrer Online-Ausgabe. Berntsens Vater war mit der Mutter Mette-Marits, Marit Tjessem, verheiratet.
Eine Hofsprecherin sagte der Nachrichtenagentur NTB: „Die Gedanken der Prinzessin sind bei den nächsten Angehörigen.“ Berntsen hielt sich privat im Sommerlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF auf. Unklar blieb, ob er dabei als Wachmann für die Veranstalter arbeitete. Ein Fahndungsprecher hatte am Sonntag angegeben, dass ein Polizist außerhalb seines Dienstes diese Funktion ausgeübt habe.
Der Rassismus sei da, hat Marit Hermansen gesagt. „Aber wir tun nichts dagegen.“ Und sie fragte: „Ist das die Gesellschaft, die wir haben wollen?“
Ihr Sohn Benjamin, 15, war gestorben, weil sein Vater aus Ghana, Afrika, stammt. Gestorben heißt in diesem Fall erschlagen, erstochen, ermordet. „Roh, brutal und feige“, so stand es in der Anklage. Zwei Männer und eine junge Frau standen in Oslo vor Gericht, laut Presseberichten Mitglieder einer Neonazigruppe namens „Bootboy“.
Sie sagten, dass Norwegen für weiße Norweger sein solle und dass sie Ausländer hassen – und sie bekamen drei bis 16 Jahre Haft, statt der möglichen Höchststrafe von 21 Jahren.
Das war im Jahr 2002. Und ihr Verteidiger damals hieß Geir Lippestad.
Lippestad ist jetzt wieder im Einsatz. Als Verteidiger von Anders Behring Breivik, dem teilgeständigen Attentäter von diesem 22. Juli.
Und 2002 ist auch das Jahr, in dem Breivik mutmaßlich angefangen hat, an einem „Manifest“ zu arbeiten, dessen Existenz am Sonntag bekannt wurde und das ihm zugeschrieben wird. „2083. A European Declaration of Independence“ heißt es: eine europäische Unabhängigkeitserklärung – von „Andrew Berwick, London 2011“. Sie umfasst 1518 Seiten, in denen es um Marx, die Frankfurter Schule, die schönen 50er Jahre, Bosnien, Liebe und Erziehung und um politische Korrektheit geht, die vor allem anderen die Wurzel sämtlichen Übels sei. Eine Wurzel, die gewaltsam herauszureißen er sich bereit erklärt habe, wohlwissend, auch das steht in einem Frage-und-Antwort-Teil des Manifests, dass man ihn hinterher für verrückt erklären würde.
Seine Tat – eine Bombenexplosion im Regierungsviertel und das Massaker auf der Insel Utöya – sei „grausam aber notwendig“ gewesen, das hat Breivik, der in Untersuchungshaft sitzt, seinem Anwalt zufolge nach der Festnahme bei der Polizei ausgesagt. Notwendig, warum? Verrückt? Wahrscheinlich.
Da ist ein allem Anschein nach intelligenter und engagierter junger Mann in einem der reichsten und sozial gerechtesten Länder der Welt. Er engagierte sich jahrelang politisch, bei den Freimaurern und den norwegischen Rechtspopulisten von der Fortschrittspartei, die im Vergleich zu ähnlichen Parteien in Europa sehr gemäßigt sind. Er trug nach eigenen Angaben mit seiner Basisarbeit dazu bei, die Partei zu einer der stärksten politischen Kräfte des Landes zu machen. Es geht bei dieser Arbeit vor allem auch gegen das in den Jahrzehnten der Herrschaft etablierte System von Seilschaften rund um die regierende Arbeiterpartei.
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Und irgendwo auf diesem Weg entgleitet Breivik, entwickelt er den Hass oder den Wahn, den es wohl braucht für Attentate wie das vom vergangenen Freitag.
Die 85 Toten, die er auf der Utöya-Insel zurückgelassen hat, sind junge Sozialdemokraten gewesen. Mitglieder der Jugendorganisation AUF, Arbeidernes Ungdomsfylking, es ist der Nachwuchs der Arbeiterpartei, deren Anführer oftmals Karriere in der Regierung machten.
Auch Ministerpräsident Jens Stoltenberg war früher AUF-Funktionär: 1983 bis 1985 als Vizevorsitzender, 1985 bis 1989 Vorsitzender. Ab 1990 gehörte er in mehreren Funktionen der Regierung an, im Jahr 2000 später wurde er von König Harald zum jüngsten Ministerpräsidenten Norwegens ernannt, er war da gerade 41 Jahre alt. Die Medien attestierten ihm früh besondere Begabungen für die politische Arbeit, er wird als wandelbar beschrieben, als einer, der eiskalt sein kann und dann wieder herzlich und ehrlich berührend und berührt.
Der heute 52-jährige Stoltenberg ist Kind einer Politikerfamilie: Sohn von Thorvald Stoltenberg, der Verteidigungs- und Außenminister war, und Karin Stoltenberg, die Staatssekretärin war. Mit diesem biografischen Hintergrund steht er für eine neue Generation bürgerlich orientierter Berufssozialdemokraten – ganz ähnlich wie die 2003 ermordete schwedische Außenministerin Anna Lindh. Als Kinder von Parteifunktionären haben sie in ihrem Leben fast nur noch Freunde innerhalb eben dieser Partei, die Züge einer Staatspartei trägt. Nicht umsonst sprach der Attentäter nach seiner Festnahme verächtlich von der „Stoltenberg-Jugend“, die er attackiert habe. Und so gilt der Ministerpräsident auch selbst als – wenn auch indirektes – Anschlagsziel. Und getroffen reagierte der auch.
Schon am Samstag, als er Richtung Utöya gefahren war, um die Angehörigen der Opfer zu treffen, sie zu trösten, stumm und mitleidend in den Arm zu nehmen. Und auch am Sonntag. „Das ist eine nationale Tragödie“, wiederholte Stoltenberg da vor dem Osloer Dom, in dem am Morgen ein Trauergottesdienst stattfand. Das richtete sich an die Trauernden, an diejenigen, die sich mit ihm getroffen fühlen. Aber er sagte auch: „Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben.“
Und das richtete sich an diejenigen, die die offene Gesellschaft attackieren.
Zu dieser Idee von Offenheit gehörte bei Stoltenberg immer auch Europa – ein Umstand, der ihm schwere Niederlagen bescherte. Er hat bereits 1993, damals war er noch als Handels- und Energieminister tätig, einen EU-Beitritt seines Landes befürwortet und musste 1994 erleben, dass die Norweger in einer Volksabstimmung eine Mitgliedschaft klar ablehnten. Es war deren zweites Nein zu Europa nach 1972.
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In dem Manifest, dessen Echtheit am Sonntag von der Polizei bestätigt wurde, stellt Breivik die 50er Jahre als Ideal dar. Als die Schulen noch gut waren, die Schüler schlimmstenfalls mal im Unterricht geschwatzt haben, als Männer Frauen noch wie Ladies behandelten, Eltern sich nicht scheiden ließen und die Mutter zu Hause war, wenn die Kinder von der Schule kamen. In diese schönen Zeiten sei dann der „kulturelle Marxismus“ eingebrochen, den Breivik auch die „politische Korrektheit“ nennt, die alle Minderheiten zu Opfern macht, denen man in angemessener Weise zu begegnen habe.
„Wie wir wissen, ist die Wurzel von Europas Problemen das Fehlen eines kulturellen Selbstbewusstseins (Nationalismus)“, schreibt er. Die Menschen trauten sich nicht, nationalistisch zu denken, weil sie fürchteten, dass sogleich „ein neuer ,Hitler’ aufpoppt und ein globales Armageddon beginnt“. Die meisten nationalistischen Bewegungen in Westeuropa würden lächerlich und mundtot gemacht – „vom gegenwärtigen kulturell-marxistischen, multikulturellen politischen Establishment“.
Wie 2002, als die drei Neonazis den 15-jährigen Benjamin Hermansen töteten, fragen sich auch diesmal alle, wie so etwas geschehen konnte. Damals konnte man lesen, dass das Potenzial gewalttätiger Rassisten in Norwegen zwar nur 150 bis 200 Personen umfasse, dass aber das vorherrschende politische Klima gegenüber Einwanderern in den Vorjahren bereits zu mehreren rassistischen Gewalttaten geführt habe. Es wurden Gesetze zitiert, die es Vermietern gestatten, ausdrücklich nur an Norweger zu vermieten. Und es wurde eine Verantwortlichkeit auch bei Stoltenberg gesehen und dessen Sparpolitik, die dazu geführt habe, dass die Altenversorgung, die Schulen oder die Straßen immer schlechter und die allgemeine Unzufriedenheit immer größer wurden.
Anders Behring Breivik soll bei seiner Vernehmung durch die Polizei alle Fakten gestanden haben, er habe aber „keine kriminelle Verantwortung“ übernommen. Er sei nicht der Meinung, etwas Strafbares getan zu haben.
Der Blick in sein Manifest erklärt das. Demzufolge rettet er, und wenn er dazu brutale Mittel gebrauchte, dann nur, weil alles andere nicht geholfen hat. Die Bösen sind in seiner Weltsicht die anderen: die Sozialdemokraten, die Norwegen verraten und an die Muslime verkaufen.
„Die Zeit des Dialogs ist vorbei. Wir haben dem Frieden eine Chance gegeben. Die Zeit des bewaffneten Widerstands ist gekommen“, heißt es wörtlich.
Ist das nun ein norwegisches Problem – oder eher ein persönliches?
Neun Jahre hat Breivik sich in seine Gedankenwelt hineingegraben, hat offenbar fast alles gelesen, was es nationalen Identitäten und Multikulti zu lesen gab. Rund die Hälfte der 1518 Seiten sei von ihm selbst geschrieben, der Rest aus den Werken der anderen zusammengetragen. Er hat viel Geld ausgegeben für das Projekt, seinen Hausstand versetzt – bis hin zum Rosenthal-Service und dem Drucker. Und dann hat er den letzten Satz geschrieben, der den Tod von so vielen besiegeln sollte:
„Ich glaube, dass das mein letzter Eintrag sein wird. Es ist Freitag, der 22. Juli, 12.51 Uhr.“