„Impfstoff, um jeden zu impfen, ist nun da“: Spahns gute Botschaft, bei der entscheidende Fragen offen bleiben
Die EU liefert, der Gesundheitsminister kann verkünden: Es gibt endlich genug Impfstoff für alle. Aber werden ausreichend viele schnell genug geimpft?
Auf diesen Tag hat der Bundesgesundheitsminister lange gewartet. Viel Kritik hatte er im Vorfeld der Impfkampagne einstecken müssen. Als dann Weihnachten 2020 die erste Spritze gesetzt wurde, versuchte Jens Spahn Optimismus zu verbreiten, musste aber gleichzeitig zugeben: Die meisten würden sich gedulden müssen, es werde dauern, bis genug Impfstoff für alle da sein werde.
Dieses Kapitel zumindest ist seit Samstag beendet. Auf Twitter verkündete der CDU-Politiker: „Impfstoff, um jeden zu impfen, ist nun da. Bitte nutzen Sie es!“
Zuvor hatte die zweite wegen der Probleme bei der Impfstoffbeschaffung viel gescholtene Deutsche eine positive Nachricht verkündet: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte in Brüssel: „An diesem Wochenende haben wir genügend Impfstoff in die Mitgliedstaaten geliefert, um in diesem Monat mindestens 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung vollständig zu impfen.“ Leyen fügte hinzu: „Die EU hat ihr Wort gehalten.“
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In Deutschland sind inzwischen mehr als 42 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft. Stand Freitag hatten 58,2 Prozent zumindest die erste Dosis bekommen. Der Minister zeigte sich erfreut über die Zahlen, verband seinen Tweet aber mit einer Warnung und einem Appell: „Das ist gut – aber im Wettlauf mit der Delta-Variante reicht das noch nicht.“
Nur eine vollständige Impfung gilt als wirksamer Schutz gegen die zuerst in Indien nachgewiesene Coronavirus-Mutation.
Das Robert Koch-Institut (RKI) geht wegen der im Vergleich zur ursprünglichen Alpha-Variante des Coronavirus um bis zu 60 Prozent ansteckenderen Delta-Variante inzwischen davon aus, dass eine Impfquote von 85 Prozent erreicht werden müsse, um die angestrebte Herdenimmunität zu schaffen.
Französische Experten fordern extrem hohe Impfquote
Und aus Paris kam am Freitagabend sogar noch eine ambitioniertere Einschätzung. Der wissenschaftliche Beirat der französischen Regierung teilte mit: „Wir kriegen die Epidemie nicht unter Kontrolle, wenn nicht 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung geimpft und infiziert sind.“ Angesichts der zunehmenden Coronafälle „könnte eine vierte Welle im Zusammenhang mit der Delta-Variante schnell eintreten, mit Auswirkungen auf das Gesundheitssystem“.
In Großbritannien, wo es aktuell noch eine höhere Impfquote als in Deutschland gibt und die Delta-Variante nach Angaben der Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) inzwischen für 99 Prozent aller Corona-Fälle verantwortlich ist, steigt die Zahl der Neuinfektionen sprunghaft an. Und was Forscher und Mediziner mindestens ebenso beunruhigt: Auch die Zahl der Patienten die wegen Covid-19 in Kliniken behandelt werden müssen, nimmt signifikant zu.
Auch in den Niederlanden nimmt die Zahl der Neuinfektionen rapide zu. Als Konsequenz gibt es erneut Einschränkungen des öffentlichen Lebens, das Nachtleben etwa wird wieder dicht gemacht. „Im Moment schießen die Infektionsraten in die Höhe, hauptsächlich wegen der hochansteckenden Delta-Variante“, sagte Regierungschef Mark Rutte nei der Ankündigung der Maßnahmen.
Umso mehr sorgt sich in Deutschland nicht nur Spahn, dass die Geschwindigkeit der Impfkampagne spürbar nachlässt. Am Mittwoch hatte Spahn auf Twitter gewarnt, noch sei das Impf-Tempo zwar hoch, doch „wir brauchen einen nationalen Impf-Ruck, um es im Juli und August weiter zu halten". Am Freitag wurden nach Angaben des RKI rund 700.000 Spritzen gesetzt; ein Wert, der auf dem Niveau der Vortage liegt. Im Juni allerdings hatte es an vielen Tagen deutlich mehr als eine Million Impfungen gegeben.
Ein Grund für das abnehmende Interesse an den Impfungen dürfte eine eigentlich positive Nachricht sein: Die Zahl der Neuinfektionen steigt zwar wieder, doch das Infektionsgeschehen ist in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern aktuell sehr gering.
Es gibt nur äußerst wenig Klinikeinweisungen, auf den Intensivstationen liegen fast nur Covid-19-Langzeitpatienten. Manche Bürgerin und mancher Bürger mag sich daher vielleicht in der möglicherweise falschen Sicherheit wähnen, die Pandemie sei vorbei.
Zudem hat sich die Ausgangslage verändert, wie auch der Forscher Jan Schnellenbach von der TU Cottbus-Senftenberg konstatiert: „Wir sind in einer Phase, wo die Menschen, die enthusiastisch auf eine Impfung gewartet haben, versorgt sind.“
In fast allen Bundesländern wird daher über Strategien diskutiert, um gegen die Impfmüdigkeit anzukämpfen. In Sachsen, wo die Kampagne derzeit am langsamsten vorankommt, soll es am 20. Juli einen Impfgipfel geben.
In allen Bundesländern geht es neben etwaigen Prämienzahlen darum, wie und wo bestimmte Zielgruppen am besten erreicht werden können – dass also die Spritzen auch zu den Menschen gebracht werden.
Eine These scheint sich zumindest nicht mehr halten zu lassen: Dass die Deutschen massenhaft Impftermine absagen. Dies ergab jedenfalls eine Umfrage der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Nur wenige Deutsche ihre Termine in den Impfzentren platzen, heißt es in dem Bericht.
Demnach meldeten die Gesundheitsministerien verschiedener Bundesländer, „keine wesentliche Steigerung“, ein „sehr geringes“ oder „gleichbleibend niedriges Niveau“ oder „keine größeren Terminabsagen“. In anderen Ländern erschienen zwischen zwei und sechs Prozent der Leute nicht zum angekündigten Impftermin. Ausreißer bildeten Hessen mit rund 20 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz mit rund 15 Prozent. Berlin und Hamburg meldeten keine Zahlen zurück, Bayern erhebe keine.
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Von den Arztpraxen gebe es nur vereinzelt Rückmeldungen wegen Terminabsagen, sagte ein Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern. Im Regelfall verhielten sich die Impfwilligen termintreu. Die angestoßene Debatte um Strafen für Impfschwänzer dürfte damit vom Tisch sein.
Eine andere nimmt dagegen angesichts der Entwicklung in anderen Ländern und der Impfquote in Deutschland Fahrt auf. Was passiert, sollten auch in Deutschland die Infektionszahlen wieder sprunghaft ansteigen? Ärztevertreter hatten bereits gefordert, die Inzidenzwerte nicht mehr – zumindest nicht ausschließlich – als ausschlaggebendes Maß für Beschränkungen und Auflagen zu machen.
Nun positionieren sich auch die großen Wirtschaftsverbände eindeutig: Nochmalige Lockdowns dürfe es nicht geben. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Peter Adrian, sagte dem „Handelsblatt“, es gelte, sich „viel stärker auf wissenschaftliche Daten und belastbare Erkenntnisse aus dem betrieblichen Alltag“ zu stützen, um „pauschale Schließungen mit ihren oft gravierenden Folgewirkungen zu vermeiden“.
Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Joachim Lang, forderte in der Zeitung: „Die Inzidenz allein darf bei einer hohen Impfquote in Deutschland nicht mehr das Maß aller Dinge sein.“
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagte: „In den kommenden Monaten wird es weiterhin darum gehen, das Leben mit Corona zu organisieren. Denn eines ist doch klar: Das Coronavirus wird nicht gänzlich verschwinden.“
Und die Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands, Branchen, Ingrid Hartges, wurde sehr deutlich: „Unsere Branche wird einen weiteren Lockdown nicht mehr akzeptieren.“ Es sei Aufgabe der Politik, fürs Impfen zu werben. „Wenn sich alle Menschen impfen lassen können und eine relevante Impfquote erreicht wird, dann darf es keine Einschränkungen wie eine Masken- oder Testpflicht für Geimpfte mehr geben.“