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Impfwillige stehen Ende Juni am Impfzentrum in Leipzig.
© Hendrik Schmidt/dpa

Forscher empfehlen bis zu 500 Euro Prämie: Impfkampagne verliert an Tempo – Sachsen verabschiedet sich von Herdenimmunität

Während bundesweit rund 57 Prozent eine Erstimpfung erhalten haben, sind es in Sachsen nur 49 Prozent. Woran liegt das? Und können Geldanreize helfen?

Die Inzidenz steigt leicht, die Neuinfektionen nehmen wieder zu, doch das Infektionsgeschehen in Deutschland ist derzeit insgesamt gering. Gute Voraussetzungen für einen entspannten Sommer. Eigentlich. Wäre da nicht die sich auch in Deutschland ausbreitende Delta-Mutante des Coronavirus.

Sie gilt als um bis zu 60 Prozent ansteckender als die ursprüngliche Alpha-Variante und macht nun bereits rund zwei Drittel der Neuinfektionen in Deutschland aus, wie das Robert Koch-Institut (RKI) am Mittwochabend mitteilte.

Und gleichzeitig sinkt nun in Deutschland wie zuvor auch in anderen Staaten die Impfbereitschaft spürbar – und das offenbar nicht nur wegen der Sommerferien, die in einigen Bundesländern schon gestartet sind. Die RKI-Zahlen zu den verabreichten Dosen zeigen, dass zuletzt am 30. Juni mehr als eine Million Spritzen verabreicht wurden, ein Wert der zuvor im Juni an vielen Tagen überschritten wurde. In der ersten Juli-Woche lagen die Zahlen zum Teil weit darunter.

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Besonders auffällig ist das Problem der schleppenden Impfkampagne in Sachsen – und dort beginnen die Sommerferien erst am 26. Juli. Der Freistaat liegt vor allem bei der Quote der Erstimpfungen deutlich hinter den anderen Bundesländern zurück. Insgesamt betrug diese Quote den RKI-Angaben zufolge bis einschließlich 7. Juli 57,6 Prozent. In Sachsen waren es 49,1 Prozent.

Zum Vergleich: In Bremen hatten zu diesem Zeitpunkt 66,5, in Schleswig-Holstein 61,1 und im Saarland 61,6 Prozent die erste Dosis erhalten.

Was könnten Gründe dafür sein? Das Sozialministerium in Sachsen erklärt auf Tagesspiegel-Anfrage: „Hier spielt der Sommer eine Rolle, die Menschen verreisen und manche sagen ihre Zweittermine ab. Manche verschieben das Impfen angesichts der niedrigen Inzidenzen gedanklich auf die Zeit nach den Ferien.“ Weiter heißt es: „Grundsätzlich könnten die niedrigen Infektionszahlen manchen glauben lassen, die Pandemie sei vorbei.“

Etwas geringer sind die Unterschiede aus sächsischer Sicht bei den vollständig Geimpften. Insgesamt lag die Quote in Deutschland hier bei 40,8 Prozent. Im Freistaat waren es 38,5. Nur eine vollständige Impfung bietet nach derzeitigem Forschungsstand einen guten Schutz gegen die Delta-Variante.

Ministerpräsident von Sachsen: Michael Kretschmer (CDU).
Ministerpräsident von Sachsen: Michael Kretschmer (CDU).
© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Wegen der neuen Mutante geht das RKI inzwischen auch davon, dass eine höhere Impfquote als bisher angenommen notwendig sei, um die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen. Auf bis zu 85 Prozent beziffert das RKI diesen Wert inzwischen. Es hält sie für „notwendig und auch erreichbar“, mahnte jüngst aber auch, es sei „entscheidend“, dass ungeimpfte Menschen motiviert werden, das Angebot wahrzunehmen.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnte am Mittwoch auf Twitter: Noch sei das Impf-Tempo zwar hoch, doch „wir brauchen einen nationalen Impf-Ruck, um es im Juli und August weiter zu halten.“

Impfgipfel in Sachsen am 20. Juli

In Sachsen ist man sehr viel skeptischer. Die Herdenimmunität zu erreichen, sei nach derzeitigem Stand schwierig, sagte der Chef der Staatskanzlei, Oliver Schenk (CDU), nach einer Kabinettssitzung am Dienstag in Dresden. Um die Impfbereitschaft zu erhöhen, wolle man nun auch „unkonventionelle Wege“ gehen, kündigte er an.

Auf Anfrage des Tagesspiegels teilte eine Sprecherin des Sozialministeriums Sachsen mit: „Wir bleiben optimistisch und intensivieren auch noch einmal unsere Impfkampagne“. Man wolle „möglichst viele flexible und niedrigschwellige Impfangebote“ schaffen.

Im Fußballstadion des FC Erzgebirge in Aue habe man zum Beispiel am Sonntag eine Impfaktion organisiert. Außerdem sollen mobile Teams in bestimmten Stadtvierteln, vor Einkaufszentren und in Hochschulen unterwegs sein. Seit vergangenem Freitag ist in Sachsen außerdem das Impfen ohne Termin in Impfzentren möglich.

Ministerpräsident Michael Kretschmer will am 20. Juli bei einem Impfgipfel mit Unternehmensverbänden, Krankenkassen, Ärzten und Gewerkschaften beraten, wie man weiter vorgehen will. Dabei werde es auch um mögliche Prämien für Impfzögerer sowie Rabatte beim Einkaufen gehen, wenn diese sich immunisieren lassen, so Schenk. Das Deutsche Rote Kreuz, das in Sachsen die Impfzentren betreibt, sei derzeit mit den Planungen für mögliche Anreize beschäftigt, heißt es auf Anfrage.

Einer Mitte Juni von der TU Dresden veröffentlichten, repräsentativen Studie zufolge standen zum Befragungszeitpunkt Mitte Mai 73 Prozent der Sächsinnen und Sachsen einer Impfung aufgeschlossen gegenüber oder hatten sich bereits impfen lassen. Unter den noch nicht Geimpften gaben 40 Prozent an, sich „auf jeden Fall“ impfen zu lassen, weitere 17 Prozent antworteten auf die Frage mit „eher ja“. Der Anteil der Impf-Skeptiker lag mit 21 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.

Nach Angaben von Studienleiter Hans Vorländer seien sie unter Jüngeren überrepräsentiert. „Wer ohne Kinder im Haushalt lebt, tendiert dazu, das Angebot nicht in Anspruch nehmen zu wollen.“ Impf-Skeptiker seien eher in Ostsachsen zu Hause. Auch rechts der Mitte oder der AfD zuzuordnende Befragte wollten sich demnach eher nicht oder auf gar keinen Fall impfen lassen.

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Insgesamt zeigten sich insbesondere in Ost- und Südwestsachsen deutliche Auffälligkeiten, so der Co-Autor der Studie, Maik Herold. „In allen Bereichen der Ablehnung oder Kritik der Corona-Maßnahmen wiesen die Befragten insbesondere in den Landkreisen Görlitz, Bautzen und Erzgebirge besonders hohe, in den Landkreisen Leipzig, Nordsachsen und Vogtland besonders niedrige Werte auf.“

RKI-Expertin: Multiplikatoren einsetzen

Um deutschlandweit die Impfquote weiter zu steigern, müssten gezielt Multiplikatoren in bestimmten Gruppen eingesetzt werden, sagte Nora Katharaina Schmid-Küpke, Expertin für Gesundheitskommunikation und federführend beim RKI-Impfquoten Monotoring, der Nachrichtenagentur dpa. Zudem müsse man sich fragen, ob es Hürden wie Sprachbarrieren oder Schwierigkeiten bei der Terminbuchung gebe.

Aus vielen Richtungen gibt es zudem Forderungen nach niedrigschwelligen Angeboten, der Aufwand müsse gering sein. Spahn soll im Bundesvorstand der Partei Impfungen an Fußballstadien ins Gespräch gebracht haben. Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach plädiert für mobile Impfstationen – an belebten Plätzen, vor Bars und Clubs wie etwa in den USA oder Israel.

Ärzte fordern von Behörden mehr Kreativität

Ähnlich sieht das die Ärztegewerkschaft Marburger Bund: „Da ist etwas mehr Kreativität bei den lokalen Behörden gefragt“, sagte die Vorsitzende Susanne Johna der Düsseldorfer „Rheinischen Post“. „Wir müssen Menschen auch direkt ansprechen und nicht warten, bis sie ins Impfzentrum oder zum Hausarzt kommen. Je niedrigschwelliger, desto besser.“

FDP-Fraktionsvize Michael Theurer ist der Ansicht, die größeren Freiheiten für Geimpfte beispielsweise beim Reisen oder Restaurantbesuch dürften ausreichend sein als Impfanreiz. Er forderte die Bundesregierung auf, den Menschen verbindlich zu sagen, wann sie ihre Freiheitsrechte zurückbekommen. „Das ist der beste Turbo gegen Impfmüdigkeit“, erklärte er vor wenigen Tagen.

Tobias Hans schlägt Lotterie vor

Das sehen nicht alle als ausreichend an. Vorschläge wie der des saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans (CDU), mit einer Lotterie gegen die Impfmüdigkeit anzugehen, stoßen zwar bei Politikern auf Ablehnung. Wenn aber ein Bundesland wie Sachsen doch noch eine Chance haben will, die Herdenimmunität zu erreichen, dann müsste es wohl signifikante Prämien zahlen – da sind sich zumindest Wissenschaftler sicher.

So raten Jan Schnellenbach von der TU Cottbus-Senftenberg und Ekkehard Köhler von der Uni Siegen zu substanziellen Geldanreizen. „Ich denke an 200 oder 300 Euro“, sagte Schnellenbach der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ). Auch eine Anwerbeprämie für Geimpfte, die Freunde oder Familienmitglieder zur Impfung motivieren, sei sinnvoll. Dies sei besser als eine Impfpflicht – einen solchen Schritt hatte die Bundesregierung bisher auch stets ausgeschlossen.

Die Ökonomin Nora Szech vom Karlsruhe Institute of Technology, die sich seit längerem mit der Frage der Impfbereitschaft beschäftigt, geht mit Blick auf die Lage in Deutschland sogar noch weiter. „Mit einer Prämie von 100 Euro kommen wir in Richtung 80 Prozent Impfbereitschaft“, sagte sie der FAZ. „Mit 500 Euro erreichen wir 90 Prozent.“

Studie: Geringe Prämie kontraproduktiv

Szech hatte im April eine Studie veröffentlich, die in den USA durchgeführt wurde. Dabei zeigte sich, dass hohe Zahlungen sehr wirksam sind. Beträge von 20 Dollar dagegen können die Impfbereitschaft hingegen sogar senken, weil die ethische Bedeutung der Impfung geschwächt werde.

Szech empfiehlt daher Prämien auch für die Menschen, die sich schon haben impfen lassen. Sonst entstehe für die Menschen, die noch nicht geimpft sind, ein Anreiz zu warten, bis Prämien eingeführt werden. Der gesellschaftliche Wert einer Impfung betrage 1500 Euro, sagte sie unter Berufung auf eine Studie des Ifo-Instituts. Und einen Teil davon solle man den Bürgern auszahlen.

„Jetzt sind wir an dem Punkt, dass das Impfangebot die Impfnachfrage übersteigt. Ich finde es schade, dass wir so lange gewartet haben. Das hätte man schon vor Wochen angehen können.“ Sie ist sich sicher: „Wir werden um Kompensationen nicht herumkommen.“

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