zum Hauptinhalt
Gewimmel in einer Fußgängerzone in München (Archivbild)
© dpa/Sven Hoppe

Virologe Stürmer zur Delta-Variante: „Die Situation ist ähnlich zu der im Winter vor der dritten Welle“

Der Virologe Martin Stürmer rät von Lockerungs-Experimenten wie in England ab. Wer hohe Inzidenzen hinnehme, lasse Spielraum für neue Mutationen. Ein Interview.

Herr Stürmer, das RKI hat gestern fast 4000 Impfdurchbrüche in Deutschland gemeldet, also Neuinfektionen bei doppelt Geimpften – ist das ein Grund zur Sorge?
Es war von Anfang an bekannt, dass Impfungen nicht zu 100 Prozent vor Neuinfektionen schützen. Die Zulassungs-Studien haben primär die Vermeidung von einer Erkrankung untersucht und da wirken die Impfstoffe sehr gut. Wir gehen davon aus, dass vollständig geimpfte Infizierte in den allermeisten Fällen milde bis asymptomatische Krankheitsverläufe haben. Trotzdem sollten wir jetzt nicht leichtsinnig werden und die Inzidenzen niedrig halten. Sonst riskieren wir, dass das Virus weitere Mutationen bildet.

In Großbritannien verbreitet sich die Delta-Variante trotz hoher Impfquote rasant. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt mittlerweile bei über 250. Wie kann das sein?
Auch in Großbritannien sind bei weitem noch nicht alle geimpft. Und bei nur einmal Geimpften liegt die Schutzwirkung gerade mal bei 33 Prozent. Das betrifft gerade in England, wo hauptsächlich das Vakzin Astrazeneca geimpft wird und zwischen Erst- und Zweitimpfung 12 Wochen liegen, sehr viele Menschen.

Großbritannien will trotzdem weiter lockern – die Regierung setzt auf eine hohe Impfquote und lässt gleichzeitig hohe Inzidenzen zu. Ist das ratsam?
Es ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Ich würde davon dringend abraten. Mit Delta verbreitet sich eine Variante des Coronavirus, die sich schneller verbreitet. Um das effektiv zu verhindern, sind noch nicht genügend Menschen vollständig geimpft. Großbritannien riskiert damit erneut eine starke Belastung des Gesundheitssystems. Es werden wieder mehr Menschen krank. Und es entsteht ein Spielraum, in dem sich weitere Virusvarianten herausbilden können, gegen die Impfstoffe deutlich weniger wirksam sind.

Der Virologe Martin Stürmer leitet ein Privatlabor in Frankfurt am Main.
Der Virologe Martin Stürmer leitet ein Privatlabor in Frankfurt am Main.
© imago images/teutopress

In Großbritannien kommen wieder mehr Menschen wegen einer Coronavirus-Infektion ins Krankenhaus. Wie groß ist das Risiko für vollständig Geimpfte, schwer zu erkranken?
Das Risiko ist sehr gering. Auch bei einer Infektion mit der Delta-Variante. Die Impfungen schützen sehr gut vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen.

Wie groß ist die Gefahr, dass sich das Virus so weiterentwickelt, dass es resistent gegen die Impfstoffe wird?
Wir haben während der Pandemie schon einige Virusvarianten gesehen. Bisher treten die Veränderungen in ähnlichen Strukturen auf, Muster wiederholen sich. Delta unterscheidet sich nicht so sehr von den vorigen Varianten, dass die Impfungen nicht mehr wirken würden. Es ist daher durchaus möglich, dass sich das Virus so weit verändern müsste, um gegen Impfungen vollständig resistent zu sein, dass es dann nicht mehr überlebensfähig wäre.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Der Sommer ist für die Menschen in Deutschland gerade sehr entspannt. Es stecken sich wenige Menschen neu an, die Inzidenzen sind niedrig. Kann sich das wieder schlagartig ändern?
Das hängt davon ab, ob wir alte Fehler wiederholen. Die Situation jetzt ist ähnlich zu der im Winter vor der dritten Welle. Auch damals hat sich die Verbreitung einer neuen Variante aufgebaut. Und trotz Warnungen aus der Wissenschaft wurden die Maßnahmen gelockert. Dadurch wurde die dritten Welle losgetreten.

„Delta-Mutation schon in über 80 Prozent der Proben“

Ich sehe bei mir im Labor, dass die Delta-Mutation schon in über 80 Prozent der Proben nachweisbar ist. Mit diesen Zahlen hinken wir dem Infektionsgeschehen mindestens eineinhalb Wochen hinterher. Darum ist es umso wichtiger jetzt abzuwarten, wie sich die Zahlen entwickeln, bevor gelockert wird.

[Lesen Sie auch: Wie Schüler nach den Ferien vor Covid-19 geschützt werden sollen (T+)]

Bei einem exponentiellen Wachstum sind es erst wenige Fälle, dann explodieren die Zahlen so wie in Großbritannien. Das sollte uns eine Lehre sein. Ich rate weiter zu Schutzmaßnahmen wie der Maskenpflicht in Innenräumen und zu umfangreichen Testungen.

In Nordrhein-Westfalen fallen in vielen Bereichen Kontaktbeschränkungen, Masken- und Nachverfolgungspflichten.
Ich halte das für das falsche Signal. Wenn wir jetzt zu großzügig lockern, droht ein deutlicher Anstieg der Infektionszahlen. .Das kann man erst machen, wenn deutlich mehr Menschen geimpft sind. Alles andere ist riskant. Ich sehe aktuell wieder höhere Zahlen bei mir im Labor. Wieso wartet man denn da jetzt nicht lieber mit weiteren Zugeständnissen ab, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt?

Die Politik ignoriert Warnungen aus der Wissenschaft leider oft und hält lieber an Stichtagen fest, zu denen Lockerungen versprochen wurden. Das ist Betonkopf-Politik und hat möglicherweise auch mit Wahlkampf zu tun. Ich würde das Risiko nicht eingehen.

Zur Startseite