Zurückrudern, Umkippen, Kehrtwende?: Sich zu korrigieren, ist eine Kunst
Wenn Politiker ihre Meinung ändern, ist die Aufregung oft groß. Dabei ist die Selbstkorrektur eine Tugend - wenn sie gut erklärt wird. Ein Kommentar.
In diesen Tagen und Wochen gewinnt ein Thema an Bedeutung – man kann schon sagen: es hat Konjunktur –, das uns alle angeht. Buchstäblich alle. Einmal, weil es von Politikern vorgelebt wird, zum anderen, weil es ein zutiefst menschliches ist: Was geschieht, wenn wir unsere Meinung ändern?
Gerade hat es ja einige Beispiele gegeben. Zwei prominente: Da ist zum einen Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. Erst war die Sozialdemokratin gegen ein höheres Strafmaß für Kinderschänder, weil aus ihrer Sicht ausreichend Strafparagrafen vorhanden sind. Ihre Argumentation war so zu verstehen: Das Recht reicht aus, die Aufgabe ist, es anzuwenden. Und polizeilich verstärkt tätig zu werden. Zwei Tage später befürwortet Lambrecht dann doch höhere Strafen. Weil sie dem großen öffentlichen und internen Druck in der Sozialdemokratie nachgegeben hat oder weil sie die Strafverschärfungen jetzt für sinnvoll hält?
Zum anderen Saskia Esken. Die SPD-Vorsitzende hatte in einem Interview gesagt: „Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte, die durch Maßnahmen der inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen.“ Sie war so verstanden worden, als sei das Auftreten der Polizei in Deutschland mit dem viel kritisierten in den USA zu vergleichen.
Nach dem Besuch einer Polizeiakademie erklärte Esken dann, sie habe die Polizei nicht unter Generalverdacht stellen wollen. Sie selbst habe nur positive Polizeierfahrungen gemacht, wisse aber auch von Menschen mit dunkler Hautfarbe, die anderes erlebt hätten, und da müsse man sich fragen, woher das komme. „Und ich glaube, dass wir gut daran tun, uns damit zu beschäftigen.“ Das klingt, als habe sie ihre Meinung geändert. Hat sie?
Meinungen müssen erklärt werden
Womit wir beim Grundproblem wären, das nicht nur, aber für die Politik besonders gilt: Meinungsänderungen müssen erklärt werden, logischerweise dann besonders gut, wenn es sich um gravierende Veränderungen oder Korrekturen handelt. Denn Politik steht ja gemeinhin unter Opportunismusverdacht. Wer heute diese Ansicht vertritt, morgen eine andere, wer heute für die eine Sache brennt, morgen unterschiedslos für die nächste, macht es keinem leicht, sich ihm anzuvertrauen. Dann geht es wie im wirklichen Leben: Menschen, die scheinbar grundlos oder nicht nachvollziehbar ihre Meinung ändern, lösen Misstrauen aus. Genau das haben auch schon einige Politiker erlebt. Oder erleben es gerade, wie die Justizministerin und die SPD-Chefin.
Der Politiker als Idealfigur ist eine institutionalisierte Überforderung
Der Wert der Verlässlichkeit wird oft überraschend und zuweilen fahrlässig unterschätzt. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass Werte und Ideale vor allem von Politikern erwartet, sogar verlangt werden. Das kann man ungerecht finden; der Politiker als Idealfigur ist eine institutionalisierte Überforderung. Und doch: In einer nachvollziehbaren Haltung liegt ein Teil der Verantwortung, die Politiker in und für die Öffentlichkeit wahrnehmen müssen.
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Selbstkorrektur ist eine Tugend - denn von selbst erklärt sich nichts
Zugleich ist es natürlich kein Vergehen, in einem bestimmten Moment die eigene Meinung zu ändern. Wer das tut, ist nicht gleich unbeständig oder launisch. Sondern kann umgekehrt im besten Sinn zeigen, dass er oder sie sich Argumenten nicht verschließt, willens und in der Lage ist, den Geist zu öffnen für neue, intellektuelle Anreize. Offenheit für Veränderungen wiederum gehört zu einem Persönlichkeitsprofil, das Sympathien gewinnt, erfordert es doch Einsicht, ja Reife, zu erkennen, wann ein Weg nicht zum Ziel führt.
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Insofern ist es ein gutes, wertvolles Recht, seine Meinung ändern zu können. Selbstkorrektur, wo angebracht, ist eine Tugend. Und eine Kunst. Niemand hat ein Monopol auf die Wahrheit, keine Ministerin, keine Spitzengenossin – allerdings muss jede neue Einsicht sorgsam verdeutlicht werden, um Glaubwürdigkeit zu schaffen. „Basta“ ist noch keine Politik. In diesen Krisenzeiten, in denen sich täglich etwas ändert, machen wir doch die Erfahrung, dass sich von selbst so gut wie nichts mehr erklärt.