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Wie neutral berichten die Medien über die Entwicklung einer Corona-App? Daran gibt es Zweifel.
© Ina Fassbender/AFP

MEDIA Lab: Das Ringen um die App und die Rolle der Medien

Kommen in der Diskussion um die Corona-App nur "opportune Zeugen" zu Wort? Eine Reflexion über "New Bias“ und Medienverantwortung.

Gut, dass um die Corona-Apps gerungen und debattiert wird und uns dadurch App-Varianten erspart bleiben, deren Einsatz wohl folgenschwer gewesen wäre. Irritierend hingegen ist, dass ein Teil der Medien es offenbar kaum erwarten kann, bis die App da ist, und so berichtet, als sei sie unsere einzige Rettung.

Die Bundesregierung wird als zögerlich darstellt, vor den Folgen der App warnende Experten erhalten wenig Gehör. Zu Wort kommen offenbar nur Personen, deren Positionen zur Tendenz des Berichts passt. „Opportune Zeugen“ instrumentalisieren, nennt man dies in der Kommunikationswissenschaft. Lutz Hagen und Hans-Mathias Kepplinger beschrieben solche Beobachtungen und machten damit den „News Bias“ fassbar, also eine Art tendenziöser Berichterstattung, mit der manche Medien ihre eigene Meinung stärken wollen.

Hierfür gibt es auch jetzt deutliche Indizien, zum Beispiele wenn in diversen TV-Beiträgen Geschäftsleute zitiert werden, die die App herbeiwünschen, weil dann alles wieder „normal“ werde, oder Passanten, weil man sich dann wieder „frei bewegen“ könne, aber keiner, der Bedenken hat. Oder indem ein Horse Race, inszeniert zwischen deutschen Entwicklern und den globalen Tech-Giganten Apple und Google, gleichsam als Argument erscheint, nun einfach mal voran zu machen, ebenfalls ohne Reflexion, was dagegenspricht.

Journalismus hingegen, der professionell und systemrelevant agiert, wird gerade deshalb, weil auch beim Thema Corona-Apps die Privatsphäre und damit ein Grundrecht eingeschränkt wird, seiner Kritik- und Kontrollfunktion nachkommen und eine Debatte organisieren, die eine informierte und verantwortungsbewusste Einschätzung der verschiedenen Optionen ermöglicht, Automatisierte Entscheidungssysteme (ADM) zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie einzusetzen.

Systemrelevanter Journalismus muss einordnen und zeigen, weshalb sich eine freie Gesellschaft eine „Ich habe nichts zu verbergen“-Bequemlichkeit nicht leisten kann, und weshalb ethische Aspekte schon der Gerechtigkeit und Solidarität wegen abgewogen werden müssen, bevor solche Apps eingesetzt wird.

Querschnittsthemen der digitalen Gesellschaft

Solche Themen sind in der digitalen Gesellschaft Basis- und Querschnittsthemen. Es genügt längst nicht mehr, das Feld dem IT-, Technik-, Netzpolitik- und Fachjournalismus oder Nichtregierungsorganisationen zu überlassen, auch wenn diese durchaus ihren Job machen. Digitalität durchdringt alle Gesellschaftsbereiche, und dies muss konsequenterweise auch für alle journalistischen Ressorts gelten. Und das heißt, auch Recherchequellen und Experten in Betracht zu ziehen, die sich mit Ethik, Datenschutzfolgenabschätzung sowie mit Befunden zu bisherigen Krisenverläufen befassen.

Die Nichtregierungsorganisation Algorithm Watch hat ein auch als Quelle für journalistische Recherche nützliches Positionspapier erstellt. Demnach liefern Fachliteratur und frühere Epidemien eine ambivalente Einschätzung, ob durch Kontaktverfolgung tatsächlich eine solch beträchtliche gesundheitliche Schadenabwendung erreichbar sei, dass diese den Eingriff in die Privatsphäre aufwiegt. Wenn, dann seien dezentrale Lösungen zu bevorzugen, wie sie mittlerweile die deutsche und die Schweizer Regierung erwägen.

Eine international ausgerichtete Kontaktverfolgung könne unter bestimmten Bedingungen aussichtsreich sein, um die Pandemie besser unter Kontrolle zu bekommen, rechnet ein aus Daten-, Gesundheits- und Ethikexperten zusammengesetztes Forscherteam der Universität Oxford vor. Zwingend sei ein ethisches Konzept, das auf Freiwilligkeit basiert und unter anderem einen Kontrollbeirat und einen Kontrollmaßnahmenkatalog vorsieht, der vorab festlegt, wie die Maßnahme wieder abgestellt wird.

Marlis Prinzing

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