Fiktion wird Realität in der Ukraine: Selenski startet mit Widerstand im Parlament
Wolodymyr Selenski übernimmt am Montag das Präsidentenamt der Ukraine. Als erstes muss er sich mit der Regierungskrise in Kiew beschäftigen.
Am Montag wird Fiktion nun Realität in der Ukraine. Einen Monat nach der Präsidentenwahl soll Wolodymyr Selenski seine Arbeit als neuer Staatschef aufnehmen. Selenski ist den Ukrainern seit Jahren als Darsteller der Comedy-Serie „Diener des Volkes“ bestens bekannt, in dem der Komiker einen erdachten Präsidenten spielte.
Nun übernimmt der politisch bislang unerfahrene Schauspieler also wirklich das höchste Staatsamt, nachdem er sich Mitte April deutlich gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko durchgesetzt hatte. Der 41 Jahre alte Schauspieler kam auf 73,22 Prozent der Stimmen.
Zu Selenskis Aufgaben in der Wirklichkeit gehört die schwierige Beziehung zum Nachbarland Russland. Mit seiner Wahl waren Hoffnungen verbunden, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden Ländern entspannen könnte. Zuletzt hatte Selenski allerdings klargestellt, dass eine Normalisierung der Beziehungen erst dann möglich sei, wenn die Halbinsel Krim und der Donbass nicht länger besetzt seien.
Am Samstag erklärte er sich zuversichtlich, dass die Halbinsel Krim zurückgegeben wird. „Ich glaube, dass wir die Heimat der Krimtataren von der Besatzung befreien werden“, schrieb Selenski auf Facebook. Die Ukraine gedachte am Samstag der Zwangsumsiedlung der krimtatarischen Minderheit nach Zentralasien unter dem Sowjetdiktator Josef Stalin vor 75 Jahren.
Russland hatte vor fünf Jahren die ukrainische Halbinsel annektiert. Selenski rechnet damit, dass die Lösung des Konfliktes ein langer Weg werden wird. Die Ukraine werde ihn gemeinsam mit den Krimtataren gehen, erklärte er. „Auch die dunkelste Macht endet im Morgengrauen“, schrieb der designierte Staatschef.
Zu dessen ersten und dringenden Herausforderungen dürfte ab Montag allerdings zunächst der Umgang mit Parlament und Regierung sein. Hier bahnt sich schon seit längerem ein Konflikt an. Die Regierungskoalition in Kiew steht vor dem Aus.
Auflösung des Parlaments möglich
Das Parlament, die Oberste Rada, spielt eine bedeutende Rolle in der ukrainischen Politik. Polit-Neuling Selenski verfügt dort derzeit über keine eigene Mehrheit, um Reformen durchzusetzen. Das könnte sich mit der nächsten Parlamentswahl ändern. Umfragen attestieren seiner bislang nicht in der Rada vertretenen Partei gute Aussichten, die meisten Stimmen zu erringen. Eine absolute Mehrheit gilt allerdings als unwahrscheinlich.
Regulär ist die Wahl erst Ende Oktober geplant. Selenski hatte in den vergangenen Wochen angedeutet, er könne das Parlament vorzeitig auflösen und die Wahl vorziehen.
Deshalb blieb in den vergangenen Wochen zunächst unklar, wann Selenski das Präsidentenamt übernehmen wird. Das Datum sollte nach dem Willen der Rada nach dem 27. Mai liegen. Denn in den letzten sechs Monaten der Legislaturperiode darf der Präsident das Parlament nicht mehr auflösen. „Ich hoffe, dass die Oberste Rada künftig ihre Entscheidungen ohne solche Bummeleien trifft“, erklärte Selenski, nachdem das Parlament letztlich den 20. Mai als Tag der Vereidigung festgelegt hatte.
Aber im Parlament hat man offenbar eine andere Möglichkeit gefunden, einer vorzeitigen Auflösung zu entgehen: Am Freitag kündigte die Volksfront-Partei ihre Regierungsbeteiligung auf. Nach dem Ausstieg der Volksfront aus der Regierung hat das Parlament einen Monat Zeit, um eine neue Regierung zu bilden. Gelingt eine neue Koalition, könnte Selenski das Parlament nicht mehr vor dem regulären Wahltermin auflösen. Eine vorgezogene Abstimmung solle unbedingt vermieden werden, erklärte Regierungschef Wolodymyr Groisman.
Außenminister tritt zurück
Ohne Unterstützung im Parlament sind Selenskis Befugnisse eingeschränkt. Das könnte sich schon bald bei der Besetzung wichtiger Posten zeigen. Der Präsident bestimmt die Kandidaten für das Amt des Außen- sowie des Verteidigungsministers. Das Parlament muss die Personalien anschließend bestätigen. Der amtierende Außenminister Pawel Klimkin kündigte am Freitag seinen Rücktritt an. „Ich habe gerade ein Rücktrittsschreiben verfasst“, sagte der Minister in einem auf Facebook veröffentlichten Video.
Er will das Schreiben dem Parlament sowie Selenski am Montag offiziell vorlegen. Der neue Präsident habe „das Recht, seine eigene außenpolitische Mannschaft zu haben und seine außenpolitische Strategie aufzubauen“, erklärte Klimkin.
Fragen wirft derweil eine weitere Personalie - außerhalb der offiziellen Politik in Kiew - auf: In der Nacht auf Donnerstag kehrte der Milliardär Igor Kolomoiski aus dem Exil in Israel in seine ukrainische Heimatstadt Dnipro zurück. Zwei Jahre hatte der Gegner von Präsident Poroschenko außerhalb des Landes verbracht, nachdem seine Bank verstaatlicht worden war.
Unklare Rolle eines Oligarchen
Selenski ist ein Geschäftspartner des Oligarchens, seine Comedyserie wurde von dessen Fernsehsender ausgestrahlt. Vor der Wahl im April gab es personelle Überschneidungen zwischen Selenskis Team und Kolomoiskis Mitarbeitern.
Im Wahlkampf hatte Poroschenko deshalb Selenski als „Marionette“ des Oligarchen kritisiert. Kolomoiski machte zuletzt in Interviews auf sich aufmerksam, in denen er über mögliche Besetzungen von Staatsämtern sprach - und damit Fragen zu seiner Rolle unter dem neuen Präsidenten nährte.
Wie groß Nähe und Einfluss tatsächlich sind, wird sich vermutlich nach Selenskis Amtsübernahme am Montag zeigen. (mit dpa)