Ukraines neuer Präsident: Was von Wolodymyr Selenski zu erwarten ist
Die Ukraine regiert künftig ein Politikneuling. Auch Berlin fragt sich, welche Agenda Selenski hat – und was dies für die Beziehungen zu Moskau bedeutet.
Nur wenige Minuten dauerte die erste Pressekonferenz des designierten ukrainischen Präsidenten. Seine wichtigste Botschaft in der Wahlkampfzentrale hieß: „Ich werde euch niemals enttäuschen.“ Wolodymyr Selenski wird das krisengeschüttelte Land mit seinen 42 Millionen Einwohnern künftig regieren. Knapp 73 Prozent stimmten für ihn, so lautet das am Montag von der Wahlkommission bekannt gegebene vorläufige Ergebnis. Amtsinhaber Petro Poroschenko verlor die Stichwahl krachend und kam auf nur knapp 24 Prozent.
Ein Fernsehmärchen ist damit Wirklichkeit geworden. Millionen Ukrainer kennen Selenski seit Jahren aus der Polit-Comedy-Serie „Diener des Volkes“, in dem der Komiker einen Geschichtslehrer spielt, der überraschend zum Präsidenten wird und fortan die Korruption bekämpft. Soweit, die Fiktion.
Was in der Realität von Selenski zu erwarten ist, das wissen die Ukrainer hingegen nicht. Und der neu ins Präsidialamt Gewählte verspürte bisher auch keine Eile, daran etwas zu ändern. Die knappe Pressekonferenz in der Siegesnacht ist nur ein Beleg dafür.
Korruption bekämpfen, Krieg beenden
Selenski will, wie sein Alter Ego aus dem Fernsehen, die weit verbreitete Korruption im Land bekämpfen. Er kündigte an, bei der Generalstaatsanwaltschaft und im Generalstab der Streitkräfte eigene Leute einzusetzen. Namen nannte er zunächst nicht. Zu konkreten Personalfragen wolle er sich zu einem späteren Zeitpunkt äußern. Erst wenige Tage vor der Wahl hatte er ein Team präsentiert, mit dem er Ämter besetzen will.
Außerdem will Selenski eine Annäherung an die EU, über einen Nato-Betritt soll das Volk entscheiden. Den Krieg im Osten der Ukraine will er beenden. Weil Selenski bislang kaum konkreter wurde, befürchten kritische Beobachter allzu viele Ungewissheiten.
Insbesondere wie der politisch völlig unerfahrene Selenski gegenüber Russland auftreten will, das seit fast fünf Jahren den Krieg im Donbass schürt, bleibt bislang ein Rätsel. Fast 13.000 Menschen sind dem Konflikt bis heute zum Opfer gefallen. Zuletzt hätten die Separatisten am Wahltag unter anderem mit Granatwerfern auf ukrainische Soldaten geschossen, hieß es auf ukrainischer Seite.
Selenski kündigte an, den Minsker Friedensplan für den umkämpften Osten wiederzubeleben. Wichtig sei es zudem, seine Landsleute aus der Gefangenschaft von Russland und der Ostukraine zu befreien. Der designierte Präsident kann dabei auf die Unterstützung des Westens zählen.
Ein unbeschriebenes Blatt
Im politischen Berlin ist Selenski ein unbeschriebenes Blatt. Für Unmut in dessen Lager sorgte, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nur Amtsinhaber Poroschenko gut eine Woche vor der Stichwahl im Kanzleramt empfing. Und bei allem Bemühen Merkels um eine Beendigung des blutigen Konfliktes in der Ost-Ukraine und die Umsetzung des von ihr mit ausgehandelten Minsker Abkommens, stößt ein anderer Punkt in Kiew bitter auf: Der Einsatz der Bundesregierung für die neue Ostsee-Pipeline Nord Stream 2. Durch sie entgehen der Ukraine hohe Transitgebühren für den Gastransport über ihr Gebiet.
Merkel will Selenski rasch besser kennenlernen. „Ich würde mich freuen, Sie bald in Berlin empfangen zu können“, schrieb sie in ihrem Glückwunschtelegramm. Und betonte: „Die Stabilisierung der Ukraine sowie eine friedliche Konfliktlösung liegen mir ebenso am Herzen wie die Durchführung zentraler Reformen der Justiz, der Dezentralisierung sowie der Korruptionsbekämpfung.“ Die Bundesregierung werde der Ukraine insbesondere in ihrem Recht auf Souveränität und territoriale Integrität auch in Zukunft tatkräftig zur Seite stehen.
Die Grünen-Politikerin Rebecca Harms verfolgte als Leiterin der Beobachtungsmission des Europäischen Parlaments die Wahl vor Ort. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel betonte sie: „Die Ukrainer haben den alten Eliten das Misstrauen ausgesprochen.“ In erster Linie sei Poroschenko abgewählt worden. Vor allem fehle vielen Menschen die letzte Konsequenz im Kampf gegen die Korruption. Selenski sei eine Projektionsfläche für Hoffnungen aller Art, gerade bei jungen Leuten. „Mich erinnert das ein bisschen an die Stimmung bei der Wahl Obamas.“
Wichtig sei, so sagte Harms weiter, nun die Unterstützung Europas und weiterer Druck auf Moskau: Man müsse Russlands Destabilisierungspolitik, angefangen von der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, weiter gemeinsam etwas entgegensetzen.
Harms versicherte, bei allem Rätselraten über die künftige Agenda, das Europäische Parlament unterstütze Selenski, das gelte vor allem auch für die „Fortsetzung und Stärkung der Reformanstrengungen, insbesondere bei der Bekämpfung von Korruption und Armut.“
Der stellvertretende SPD-Fraktionschef im Bundestag, Achim Post, sagte dem Tagesspiegel, der überwältigende Wahlsieg von Selenski zeige, „wie groß die Sehnsucht nach Veränderung in der Ukraine ist“. Die EU solle zügig klären wie sie den neuen Präsidenten unterstützen kann. „Europa hat ein elementares Interesse daran, dass ein politischer und wirtschaftlicher Aufbruch in der Ukraine gelingt und es zugleich zu Verbesserungen und Schritten der Entspannung im Verhältnis zu Russland kommt.“
Der Kreml schweigt
Wie Russland mit dem Neuen umgeht, wird sich erst zeigen müssen. Poroschenko, der nach seiner Niederlage Selenski Unterstützung anbot und weiter in der Politik bleiben will, warnte auf Twitter, der Kreml werde wohl feiern, weil man dort glaube, „dass die Ukraine mit einem neuen unerfahrenen ukrainischen Präsidenten schnell wieder in den Einflussbereich Russlands zurückkehren könnte“.
Der Kreml reagierte zurückhaltend. Es sei noch zu früh, dass Präsident Wladimir Putin seinem künftigen Amtskollegen zur Wahl gratuliere, sagte sein Sprecher und Vertrauter Dmitri Peskow am Montag. Moskau respektiere aber die eindeutige Wahl des ukrainischen Volkes. Eine mögliche Zusammenarbeit sei bislang kein Thema. „Vorher müssen wir die konkrete Arbeit (von Selenski) beurteilen.“
Ministerpräsident Dmitri Medwedew hatte zuvor erklärt, jetzt könnten die zerstörten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der Ukraine verbessert werden. Er wolle aber keine Illusionen befördern, dass dies unbedingt so kommen müsse.
Nötig seien dafür Ehrlichkeit, Pragmatismus und eine vernünftige Annäherung, lautete Medwedews Kommentar auf Facebook.
Mehrere Außenpolitiker in Moskau äußerten die Hoffnung, dass sich Selenski als eigenständiger Politiker etablieren könne - und sich nicht von den USA, der Nato und der EU steuern lasse.
Gratulationen kamen derweil aus der russischen Opposition. Kreml-Kritiker Alexej Nawalny gratulierte den Ukrainern zur „fairen Wahl“, die eine Seltenheit auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Die Ukraine habe sich als Demokratie vollständig etabliert, erklärte der russische Journalist Konstantin von Eggert auf Facebook. „Einen Moskau-nahen Präsidenten wird es dort nicht geben, denn das wird die Gesellschaft nicht zulassen. Wenn Selenski nicht gefällt, werfen sie ihn raus und wählen den nächsten.“
Selenski rief nach seinem Wahlsieg andere Ex-Sowjetrepubliken auf, sich am demokratischen Machtwechsel in der Ukraine ein Beispiel zu nehmen: „Alles ist möglich.“ (mit dpa, rtr)