Drei unangenehme Einsichten für die Grünen: Schluss mit dem Opponieren, ran ans Regieren
Die Grünen müssen den EU-Partnern beweisen, wie der Doppelausstieg aus Kernkraft und Kohle funktionieren kann. Und wie Energie bezahlbar bleibt. Ein Kommentar.
Regieren ist ein Rendezvous mit der Realität. Zur Wirklichkeit im Januar 2022 gehören drei für die Grünen unangenehme Einsichten.
Erstens unterstützt eine klare Mehrheit der 27 EU-Staaten die Entscheidung der EU-Kommission, Atomstrom und moderne Gaskraftwerke als bedingt nachhaltig einzustufen – und damit als förderungswürdig. Das war absehbar.
Zweitens spricht der nüchterne Blick auf die Bemühungen um die Begrenzung der Erderwärmung für diese Politik. Wer die Energieversorgung von Bürgern und Wirtschaft garantieren möchte und den raschen globalen Abschied vom Klimakiller Kohle anstrebt, kommt an Akws sowie an Gas als Überbrückungshilfe ins Zeitalter der erneuerbaren Energien kaum vorbei. Auch der Weltklimarat IPCC rechnet in seinen Modellen, wie sich die Klimaziele erreichen lassen, mit einem beträchtlichen, ja sogar: wachsenden Anteil von Atomstrom.
Drittens steigen die Energiepreise in Europa exorbitant. Vielerorts gilt die „grüne“ Energiepolitik der EU als Hauptursache und Atomkraft als mögliche Preisbremse.
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Das klingt bitter für eine Partei, die im Widerstand gegen Kernkraft groß geworden ist und im Atomausstieg, den Deutschland in diesem Jahr vollenden möchte, ihren bisher größten Erfolg sieht. Aber: Sind die Grünen deshalb gut beraten, die EU-Entscheidung zum Skandal hochzureden und mit Klagen vor EU-Gerichten zu drohen?
Niemand verlangt von ihnen, vom Glauben abzufallen und mit „Atomkraft, ja bitte“-Buttons zu demonstrieren. Oder eine Revision des deutschen Atomausstiegs mitzutragen; daran würde die Ampel-Koalition wohl zerbrechen.
Erwarten darf man jedoch, dass sie den europäischen Partnern zugestehen, was sie für sich in Anspruch nehmen: selbst zu entscheiden, was der optimale Mix aus sauberer, sicherer, verantwortbarer und bezahlbarer Energie ist. Und den Mehrheitswillen in der EU auch dann zu respektieren, wenn er den eigenen Überzeugungen zuwiderläuft.
Die Zustimmung zur Atomkraft wächst
Schließen sie sich der angedrohten Klage der österreichischen Grünen vor dem Europäischen Gerichtshof an, stellen sie ihr Dogma über die Bereitschaft zu europapolitischen Kompromissen. Wie sähe das zudem aus, wenn die Grünen als kleinerer Koalitionspartner damit indirekt auch gegen Kanzler Olaf Scholz klagen? Denn der stützt die EU-Entscheidung.
Die Einstellung zur Atomkraft hat sich in vielen EU-Staaten gewandelt, auch in Deutschland. Die Zahl der Gegner sinkt. Nach neuen Umfragen ist die Hälfte der Deutschen offen für ihre Nutzung; nur 28 Prozent lehnen sie ab.
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In Schweden und Dänemark war die Ablehnung früher hoch; nun halten um die 60 Prozent Atomstrom für klimafreundlich.
Woran liegt das? Die Einwände sind nicht geschwunden. Überzeugende Lösungen für eine sichere Lagerung des strahlenden Atommülls fehlen weiter.
Die Klimakrise ist akuter als die Frage nach dem Atommüll
Kernkraft ist nicht attraktiver geworden. Eher haben sich die Risiken und Schwächen anderer Energieträger in den Vordergrund geschoben. Die Klimakrise ist akuter, und der Zeitdruck, Abhilfe zu schaffen, etwa durch den Kohleausstieg, größer als beim Atommüll.
Wladimir Putin droht mit Krieg und missbraucht russisches Gas zur Erpressung. Bei Wind und Solar gibt es enorme Fortschritte, aber die Vollversorgung können sie auf absehbare Zeit nicht leisten. Für die Absicherung der Grundlast werden Atom und Gas gebraucht.
Grüner Wasserstoff ist Zukunftsmusik. Auch die Minireaktoren, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als Neuerfindung der Kernkraft preist, sind noch nicht marktreif.
In dieser Umbruchsituation ist die Entscheidung der EU-Kommission pragmatisch. Sie fördert die Erneuerbaren unbedingt, Kernkraft und moderne Gaskraftwerke hingegen unter Auflagen.
Die Grünen sollten ihre Energie nicht mit Opponieren verschwenden. Sie sind jetzt an der Regierung und wollen Volkspartei werden. Das wird nur gelingen, wenn sie die Deutschen und die EU-Partner davon überzeugen, dass ihr Weg des parallelen Ausstiegs aus Atom und Kohle funktionieren kann. Und die Energiepreise zugleich bezahlbar bleiben.