Kohle und Atomkraft: Deutschland muss zeigen, dass der Doppelausstieg gelingen kann
Macron fordert, dass die EU Kernenergie als nachhaltig fördert. Dass es auch anders gehen kann, kann Deutschland jetzt beweisen. Ein Kommentar.
Holen die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer jetzt nochmal die längst abgelegten, oliv vergrauten Parkas mit den inzwischen nur noch blassgelben Aufnähern aus den Schränken? „Atomkraft? Nein Danke“ stand im Fokus ihres Generationenprojekts, von Wyhl über Wackersdorf bis Gorleben.
Vor dem Pensionsalter durften sie den Erfolg feiern. Nach einem langen Marsch durch die Institutionen, der Gründung der grünen Partei, deren Regierungsbeteiligung und dem Reaktorunglück in Fukushima war der Atomausstieg besiegelt, jedenfalls in Deutschland.
Doch nun wollen mehrere EU-Partner die Kernenergie zur Rettung vor der Klimakatastrophe erklären. Sie können sich dabei sogar auf eine Empfehlung des Weltklimarats berufen. Zehn Staaten unter Führung Frankreichs verlangen, die EU solle Atomstrom als nachhaltig und förderungswürdig im Green Deal ausweisen. Er verursacht weniger Emissionen als die Nutzung fossiler Brennstoffe.
Emmanuel Macron setzt in seinem Innovationspaket „France 2030“ auf neue kleinere Reaktoren (SMR) neben Biotechnik und Raumfahrt. So möchte er Frankreich die Technologieführerschaft in einzelnen Branchen erhalten und es unabhängig von strategischen Importen, darunter Energieträgern, machen.
Renaissance der Kernkraft in Europa
Welche Ironie: Wegen der Klimakrise erlebt Kernkraft eine Renaissance in Europa. Der Kohleausstieg ist wegen der Emissionen zwingend, aber das macht einen parallelen Atomausstieg umso schwerer. Die Mehrheit der EU-Staaten produziert Atomstrom und denkt eher an neue Reaktoren als an die Verschrottung aller Akws. Länder, die keine haben wie Polen, möchten sie einführen.
Das Motiv ist nicht naive Fortschrittsgläubigkeit wie in den 1950er Jahren. Es gehe um die schwierige Abwägung zwischen „einer schlechten und einer sehr schlechten Lösung“, sagen die Liberalen in Belgien. Dort droht die Koalition aus sieben Parteien an der Frage zu zerbrechen, ob die in die Jahre gekommenen Akws bis 2025 abgeschaltet oder erneuert werden.
Erneuerbare Energien werden die Lücke nicht so rasch füllen. Wer aber möchte sich angesichts stark steigender Gaspreise von Wladimir Putins Erdgas als „Brückentechnologie“ abhängig machen.
In Deutschland konzentrieren sich die Widersprüche
Wo bleibt da Deutschland? Es ist ein Orientierungspunkt für Befürworter wie Gegner eines parallelen Doppelausstiegs aus Kohle- und Atomkraft. Denn hier konzentrieren sich die Widersprüche. Es ist eine offene Wette, ob die deutsche Energiewende zum wegweisenden oder abschreckenden Beispiel wird.
Die Reihenfolge der Ausstiege war nicht optimal. Erst die Kohlekraftwerke abschalten, und in dem Tempo, in dem die Erneuerbaren das ausgleichen, die Akws vom Netz nehmen: Das hätte die Operation erleichtert.
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Das Tempo der Umstellung auf Erneuerbare hierzulande wird im Ausland aber durchaus als Vorbild betrachtet. Binnen 20 Jahren ist der Anteil der Erneuerbaren von sechs auf 46 Prozent gestiegen. Gewiss, zur Ehrlichkeit gehört auch: Das war möglich, weil Deutschland in europäische Stromnetze eingebunden ist und auch dann genug Strom hat, wenn sich der deutsche Verbrauch nicht aus Sonne und Wind decken lässt.
Zur Versorgungssicherheit trägt auch Atom- und Kohlestrom aus Frankreich, Polen und anderen Nachbarländern bei. Sowie russisches Erdgas, das Putin als politische Waffe einsetzt, weil auch Gaskraftwerke zu diesem Sicherheitsnetz zählen.
Mehr Management, weniger Moral
Wer spotten möchte, sieht darin Pharisäertum. Deutschland als eine demnächst von Kohle und Atom befreite Insel mitten in Europa, die sich jedoch uneingestanden auf die Energieträger bei den Nachbarn verlässt, die sie für sich selbst als unverantwortlich brandmarkt.
Wäre es da nicht ehrlicher, wenn Klimaschützer sich mit Aufnähern „Atomkraft? Ja Bitte“ auf die Straße wagen? So weit muss man nicht gehen. Es wäre aber schon viel geholfen, wenn die Energiewende weniger als moralische Frage und mehr als Managementaufgabe intoniert würde. Es liegt an Deutschland zu beweisen, dass der Doppelausstieg gelingen kann.