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Erdogan sagt, wo es lang geht. Nach dem Abgang von Premier Davutoglu hat der türkische Präsident alle Macht an sich gezogen.
© REUTERS

EU und Türkei: Scheitert der Flüchtlingsdeal am Streit über Visafreiheit?

Einzig und allein: Recep Tayyip Erdogan sagt, wo es langgeht. Und zwar nur er. Auch in den Beziehungen zur EU. Um die steht es täglich schlechter. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Recep Tayyip Erdogan lässt derzeit keine Gelegenheit aus, auf Europa einzuschlagen. Auch am Donnerstag nutzte er eine Rede in Ankara, um der EU nicht nur Heuchelei im Visastreit, sondern auch noch Hilfe für anti-türkische Terroristen vorzuwerfen. Nur eine Woche nach Ablösung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu herrscht in den türkisch-europäischen Beziehungen helle Aufruhr.

Was will Erdogan?
Der 62-jährige Staatschef ist ein politischer Hasardeur, der gerne mal alles auf eine Karte setzt und gegen angebliche Feinde der Türkei jenseits der Grenzen und besonders in europäischen Amtsstuben wettert. Seine Jahre als pro-europäischer Reformer, der sich den Respekt von EU-Politikern verdiente, liegen inzwischen weit zurück. Statt dessen strebt Erdogan inzwischen ein Präsidialsystem an, das von Kritikern als Modell einer autokratischen Herrschaft verdammt wird. Auf dem Weg zu seinem Ziel duldet Erdogan keinen Widerstand.

Auch ohne die nötigen Verfassungsänderungen spielt Erdogan schon jetzt die Rolle eines Präsidenten, der auf allen Feldern der Politik das Sagen hat. Davutoglu hatte – unter anderem mit dem Flüchtlingsabkommen mit der EU im Frühjahr – versucht, sein eigenes Renommee zu mehren. Der Premier verlor sein Amt, weil er Erdogan nicht loyal genug erschien. Nun macht Erdogan überdeutlich, dass er selbst sagt, wo es langgeht – auch in den Beziehungen zu Europa.

Was bedeutet das für die türkisch-europäischen Beziehungen?
Erdogan handelt dabei aus der Überzeugung heraus, dass die Türkei stark genug ist, um ihre Interessen auch gegenüber westlichen Partnern wie der EU offen zu vertreten. Wenn es keine Einigung im Streit um die Visafreiheit und die Terrorgesetze gebe, dann „gehen wir unseren Weg und ihr euren“, ließ er die Europäer schon vorige Woche wissen. Am Donnerstag bekräftigte er dies mit einer Verve, die von türkischen Medien als Signal aufgefasst wurde, dass sich die Wege von EU und Türkei trennen. „Entweder bauen wir unsere Beziehungen aus, oder wir suchen uns seinen neuen Weg“, sagte Erdogan.

Entsprechend jäh war die politische Kehrtwende nach Davutoglus Abgang. Die türkisch-europäische Zusammenarbeit nach dem Motto Visafreiheit gegen türkische Kooperation bei der Reduzierung des Flüchtlingsstroms nach Europa verwandelte sich in einen von Erdogan vom Zaun gebrochenen Schlagabtausch, der immer weiter eskaliert. Nach Davutoglus Abschied gibt es niemanden in der türkischen Regierung, der mäßigend auf Erdogan einwirkt. „Ab sofort handeln wir nach den Anweisungen unseres Präsidenten“, sagte EU-Minister Volkan Bozkir.

Nimmt Erdogan ein Scheitern der Visafreiheit in Kauf?
Der von schweren Vorwürfen an die EU eingeleitete neue Kurs der Türkei unter Erdogan läuft auf den Versuch hinaus, selbst die Spielregeln bei Themen wie der Einführung des visafreien Reisens zu definieren, statt sich den Vorgaben aus Brüssel zu fügen. „Seit wann regiert ihr denn eigentlich das Land?“ fragte Erdogan am Donnerstag an die Europäer gerichtet. Europäische Spitzenpolitiker wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bleiben gelassen, weil sie sicher sind, dass Erdogan nicht zu weit gehen wird: Der türkische Präsident wolle wohl nicht derjenige sein, der seinen Wählern die lange ersehnte Visafreiheit vorenthalte. Wenn doch, dann sei das „sein Problem“, sagte Juncker über Erdogan.

Juncker und andere übersehen möglicherweise, dass der türkische Präsident den Streit mit der EU vor dem heimischen Publikum ganz anders präsentiert. So wie die Forderung aus Brüssel nach einer Liberalisierung der türkischen Antiterror-Gesetze von Erdogan zum Angriff auf die türkische Souveränität umdeklariert wird. Gesetze, die in Europa als völlig gerechtfertig gelten, würden im Falle der Türkei als gefährlicher Luxus verurteilt, sagte er.

Die regierungsnahe Presse in der Türkei verbreitet inzwischen, alle 72 Kriterien der EU für die Einführung des visafreien Reiseverkehrs seien lediglich Vorwände, die gegen die Türkei benutzt würden. Erdogan behauptet zudem, die EU habe ihm selbst die Visafreiheit ab Oktober zugesagt – ohne die Änderung der türkischen Terrorgesetze als Vorbedingung. Der Präsident wärmte auch die alte türkische These von der europäischen Unterstützung für Terrorgruppen wie die kurdische PKK wieder auf. Justizminister Bekir Bozdag warf den Europäern vor, sie wollten erreichen, dass die PKK ihre Propaganda ungestraft verbreiten dürfe.

Musste gehen: Ahmet Davutoglu, der türkische Premier, wurde Erdogan zu stark.
Musste gehen: Ahmet Davutoglu, der türkische Premier, wurde Erdogan zu stark.
© Reuters

Was geschieht, wenn die Visafreiheit nicht zustande kommt?
Sollte das Projekt der Visafreiheit scheitern, wird Erdogan möglicherweise auch die anderen Bestandteile des Flüchtlingsabkommens mit der EU außer Kraft setzen. Die Türkei würde dann die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland stoppen und die verstärkten Kontrollen an der Ägäis wieder herunterfahren. Schlepperbanden könnten das nutzen und wieder mehr Flüchtlinge über das Meer nach Griechenland schicken. Zuletzt war die Zahl der Neuankömmlinge in Griechenland auf rund 60 pro Tag gesunken, ein Rückgang von mehr als 90 Prozent seit März.

Ob die Türkei ohne Flüchtlingsabkommen auch ohne die Milliarden aus der EU zur Versorgung syrischer Flüchtlinge auskommen müsste, ist nicht sicher, weil Europa weiter ein Interesse daran hätte, Anreize für einen Verbleib von Flüchtlingen in der Türkei zu schaffen.

Ein Kollaps des Flüchtlingsdeals hätte aber wahrscheinlich noch weitreichendere Folgen. Die Türkei stünde nach der 180-Grad-Wende Erdogans als Land da, dessen Gesprächspartner nicht mehr sicher sein können, dass Zusagen auch nach einem Personalwechsel in der Regierung verlässlich eingehalten werden. Ankara könnte weiter in die Isolation rutschen; dabei hat die Türkei im Nahen Osten ohnehin nicht mehr viele Freunde.

Selbst wenn Erdogan und Brüssel einen Mittelweg finden und die Visa-Vereinbarung sowie das ganze Flüchtlingsabkommen doch noch retten, wird ein bitterer Nachgeschmack bleiben. Die EU macht gerade Bekanntschaft mit den Schattenseiten der zunehmenden Personalisierung der türkischen Politik, in der Erdogan alles allein entscheidet. Einige Erdogan-Berater empfehlen ihrem Chef ohnehin, sich von Europa und dem angestrebten EU-Beitritt abzuwenden.

Wie könnte ein Plan B der EU aussehen?
Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz, langjähriger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, entwickelte im Gespräch mit dem Tagesspiegel einen Drei-Punkte-Plan als Ausweg, falls das Europäische Parlament die Voraussetzungen für eine Visafreiheit nicht gegeben sieht oder Erdogan den Flüchtlingspakt scheitern lässt.

Die EU müsste endlich, Punkt eins, begreifen, dass der Schutz der Außengrenzen die Aufgabe aller 28 Mitgliedstaaten sei und nicht nur die der peripheren Länder. Sie müsse, zweitens, eine gemeinsame Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik beschließen, deren Vollzug an den Außengrenzen abgewickelt wird. Sie müsse, zum dritten, vereinbaren, dass die dadurch entstehenden Kosten aus dem Haushalt der EU gedeckt werden. Dies zusammen genommen wäre, so Polenz, ein wichtiger Schritt hin zu einem integrierten Europa.

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