Migration und Integration: Sachverständige sehen deutsche Einwanderungspolitik "in Balance"
Die Migrationsfachleute des SVR blicken auf die letzten fünf Jahre - und ziehen positive Bilanz. Es sollte allerdings mehr für Integration geschehen.
Der Sachverständigenrat Integration und Migration (SVR) sieht in seinem aktuellen Jahresgutachten die deutschen Einwanderungspolitik und –lage gemischt, aber tendenziell im Plus. Für seinen Bericht dieses Jahres nahm sich das unabhängige, von deutschen Stiftungen getragene Gremium aus Migrationsforscherinnen und –forschern aller Fachgebiete die letzten fünf Jahre vor, die von der Ankunft besonders vieler Geflüchteter geprägt war. Der Politik empfiehlt der SVR, in der nächsten Zeit stärker die Einwanderung aus der Europäischen Union in den Blick zu nehmen.
Deren Anteil an der Gesamtzahl werde stets unterschätzt, obwohl er – ausgenommen die Jahre 2015 und 2016 – stets „deutlich über der 50-Prozent-Marke“ gelegen habe. Die EU-Neuankömmlinge seien „ein Gewinn für unseren Arbeitsmarkt, allerdings stellt die Armutszuwanderung aus der EU für einige Kommunen eine enorme sozialpolitische Herausforderung dar“, erklärte der Vorsitzende des Rats, der Ökonom Thomas Bauer. Auch EU-Bürgerinnen und und –Bürger ebenso wie gering Qualifizierte, die im Niedriglohnsektor arbeiteten, brauchten „einen effektiven Zugang zu Integrationskursen wie zu sonstigen Qualifizierungsangeboten, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen“.
Widerspruch zwischen Migrationsbegrenzung und Integration "unauflösbar"
Der deutschen Asylpolitik bescheinigt der SVR in den Jahren seit 2014 „eine hohe Dynamik in der Rechtssetzung“. Die vermisst er dagegen für die geplante gemeinsame europäische Asylpolitik, deren Reform seit 2016 stillsteht. Unter der wohlwollenden Überschrift verbirgt sich allerdings erhebliche Kritik – etwa an den vom Bundesinnenminister gewollten Ankerzentren. Was damit erreicht werden soll – eine raschere Bearbeitung von Asylanträgen und die schnellere Abschiebung Abgelehnter – sei schon seit etlichen Jahren politisches Ziel: „Insofern erscheinen die Ankerzentren eher als symbolische Zuspitzung einer politischen Debatte, die seit Langem geführt wird.“
Obwohl der Rat Flüchtlingsorganisationen widerspricht, die die Flut von Asylgesetzen unter dem Eindruck der Ankunft vieler kritisieren und sie alle in Richtung Repression gehen sehen, stellen auch die SVR-Fachleute für die letzten Jahre der Politik „ein Spannungsverhältnis zwischen Migrationssteuerung und Integrationsförderung“ fest, das „strukturell unauflösbar“ sei.
Sie loben, dass für anerkannte Schutzsuchende Leben und Einleben in Deutschland erleichtert wurde, verweisen aber auch darauf, dass der Kreis derer, die in den Genuss der Lockerungen kommen, per Gesetz immer weiter eingeschränkt wurde – so durch die „sukzessive Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten“. Für Menschen, die aus Ländern kommen, die der deutsche Gesetzgeber für menschenrechtlich unproblematisch hält, „wurden in den letzten Jahren zahlreiche Verschärfungen im Asyl-, Aufenthalts-, Sozial- und Abstammungsrecht verabschiedet.“
Viel Einwanderung ist schlecht für die Rechte der Neuen
Auch die letzten Jahre hätten eine alte Regel "Numbers vs. Rights" - hohe Zuzugszahlen sind schlecht für die Rechte der Neuen - der Migrationsforschung bestätigt, die nicht nur für Deutschland gilt: „Wenn viele Asylsuchende zuwandern, werden menschen- und flüchtlingsrechtliche Regelungen (soweit sie über die Mindestverpflichtungen des Völkerrechts hinausgehen) tendenziell abgebaut; ordnungsrechtliche Perspektiven gewinnen in solchen Phasen an Gewicht. Erweitert werden die Rechte von Asylsuchenden vor allem dann, wenn wenig Flüchtlinge zuziehen und das Themenfeld Flucht und Asyl öffentlich kaum präsent ist.“
Im Bericht, der sich teils wie eine Asylgeschichte der Bundesrepublik liest, wird darauf hingewiesen, dass in der Bundesrepublik, die sich im Grundgesetz vor 70 Jahren das damals weltweit liberalste Asylrecht gab, seit 1953 rund 5,7 Millionen Menschen Asyl beantragten. Rund ein Drittel der Anträge wurde in den letzten fünf Jahren, zwischen 2013 und 2018, gestellt. Die Erlanger Politikwissenschaftlerin Petra Bendel verteidigte während der Vorstellung des Jahresberichts die vorsichtige Einschätzung des Rats zur Asylpolitik, dessen Mitglied sie ist, und sprach von einer "ausgewogenen Analyse". Neben Einschränkungen stünden auch "integrationspolitisch wirksame Gesetze", die Schutzsuchenden rascheren Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnet hätten, schutzbedürftige Flüchtlinge mit UN-Programmen ins Land geholt - das sogenannte Resettlement - oder auch Arbeitsmigration ermöglicht hätten. Sie nannte die Westbalkanregelung, die noch bis zum nächsten Jahr Menschen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien erlaubt, in Deutschland zu arbeiten, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben. Ihr Kollege Daniel Thym, Jura-Professor an der Universität Konstanz und Spezialist für Migrationsrecht, räumte ein, dass die Gesetzgebung in den letzten Jahren von Hektik bestimmt gewesen sei und - Beispiel Ankerzentren - sich oft um Symbolisches gedreht habe. "Meine Prognose ist, dass wir das in ein paar Jahren auch vom Geordnete-Rückkehr-Gesetz sagen werden." Das Gesetz, das derzeit im parlamentarischen Verfahren ist, entstand im Bundesinnenministerium und ist ein neuer Versuch des Hauses, die Abschiebezahlen zu erhöhen. Das Jahresgutachten enthält eine beeindruckende, drei Seiten lange Tabelle der Asylgesetze der letzten Jahre.
Anteil migrantischer Kita-Kinder sinkt
Warnungen spricht der SVR nicht zum ersten Mal für Teile der Bildungs-Teilhabe aus. Während fast alle - zwischen 96 und 99 Prozent - der nichtmigrantischen Vorschulkinder ab drei Jahren seit 2013 eine Kita besuchen, tun dies deutlich weniger Kinder aus migrantischen Familien. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Flüchtlingszuwanderung lag ihr Anteil bei immerhin 90 Prozent, inzwischen ist er laut SVR jedoch "wieder gesunken und lag 2018 nur noch bei 82 Prozent". Die Gründe könnten vielfältig sein. Die Soziologin Claudia Diehl, auch sie SVR-Mitglied, vermutete, dass es vielen Familien schwerfalle, ihr Kind aus dem Haus zu geben, wenn doch, öfter als in nichtmigrantischen Familien, die Mutter zu Hause sei. Sie warb für eine gezielte Ansprache der Familien, um sie davon zu überzeugen, wie wichtig gerade im besonders lernbereiten Alter das Sprachelernen in der Kita sei. Dem steht allerdings die Realität vieler Tagesstätten entgegen: Laut SVR-Bericht besuchte 2015 jedes dritte Kind mit nichtdeutscher Familiensprache eine Kita, in der die Hälfte und mehr der Kinder ebenfalls nicht mit Deutsch als erster Sprache aufwachsen. "In solchen Einrichtungen haben sie entsprechend weniger Gelegenheiten, im Alltag Deutsch zu sprechen und zu lernen." Sonst konstatiert das Gutachten einerseits Erfolge: Von den zwischen 2013 und 2016 angekommenen geflüchteten Grundschulkindern gingen im Jahr 2016 95 Prozent zur Schule, und trotz höherer Bildungsbeteiligung von vielen Neuen seien etliche zentrale Bildungskennziffern gleich geblieben oder hätten sich verbessert - etwa der Gesamtschulbesuch von migrantischen Jugendlichen, die es von dort häufiger zum Abitur und Studium schafften. Gleichzeitig hat sich der Anteil der Jugendlichen mehr als verdoppelt, die selbst eingewandert sind und keinen Schulabschluss haben.
Migranten sind zunehmend Opfer - und Täter
Zum ersten Mal widmete sich der SVR in einem Jahresgutachten auch Migration und Kriminalität. Dass dies mit der öffentlichen Dauerdiskussion zu tun habe, bestritten die Mitglieder. Sie sei ein Teilaspekt sozialer Integration, sagte die Soziologin Claudia Diehl: "Wenn man über Integration spricht, gehört auch das dazu." Das Gutachten verweist auf eine Mehr an Hasskriminalität gegen Fremde und solche, die als fremd etikettiert werden. Sie wuchs zwischen 2014 und 2015 um mehr als das Doppelte, ging dann zurück, liegt aber immer noch deutlich höher als vor 2015, dem Höhepunkt des Flüchtlingszuzugs. Aber auch die gefürchtete und vieldiskutierte "Ausländerkriminalität" ist mehr geworden, heißt es im Gutachten - mitten in einer Lage, in der die Kriminalität insgesamt in Deutschland nachlässt. Der SVR verweist darauf, dass dies auch gelte, wenn man berücksichtige, dass die ausländische Bevölkerung in Deutschland insgesamt gewachsen sei und bestimmte Delikte - Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht - nur von Nichtdeutschen begangen werden können. Auch die Tatsache, dass junge Männer, in allen Kulturen tendenziell gewalttätiger und kriminalitätsgeneigter, einen großen Teil der Neuen ausmachen, erklärt nach Meinung des SVR die höheren Zahlen nicht. Der in Essen lehrende Entwicklungspsychologe Haci-Halil Uslucan, ein Experte für Jugendgewalt, und seine Kollegin Diehl verwiesen allerdings auf die übliche Vorgeschichte von Gewalt. Eigene Gewalterfahrungen seien allgemein "ein wichtiger Faktor". Sie könnten Verrohung auch im Falle Geflüchteter fördern, von denen viele auf der Flucht und zuvor in den Kriegen, aus denen sie kommen, massive Gewalterfahrungen gemacht hätten. Für die Gewalt, deren Opfer sie selbst würden, gelte das früher verbreitete Profil nicht mehr, ergänzte Uslucan. Hasskriminelle seien nicht mehr durchweg jünger und ungebildet.
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