Moskaus nächstes Kriegsziel?: Russland nimmt die Separatistenrepublik Transnistrien ins Visier
Putins Truppen wollen die Südukraine erobern und bis in die von Moldau abtrünnige Region vorstoßen. Dort sehnen sich Separatisten seit Jahren nach einem Anschluss.
Transnistrien hat alles, was ein Staat braucht. Eine Regierung, eine Nationalhymne, einen eigenen Pass, und wer einreisen will, muss Grenzposten passieren. Es gibt zudem die eigene Währung, den Transnistrischen Rubel, eine Flagge mit Hammer und Sichel sowie den Geheimdienst KGB.
Faktisch funktioniert Transnistrien wie ein Staat, doch niemand erkennt die Separatistenregion als eigenständig an. Selbst der Kreml nicht, der das von der Republik Moldau abtrünnige Gebiet seit drei Jahrzehnten protegiert.
Die Lage könnte sich bald neu sortieren. Russland will in der Ukraine nicht nur den Donbass einnehmen, sondern auch den Süden kontrollieren, das kündigte der Vize-Kommandeur des zentralen Wehrbezirks, Rustam Minnekajew, am Freitag an. Diese „zweite Phase“ des Militäreinsatzes könnte einen „Korridor nach Transnistrien“ schaffen, wie er sagte.
Am Wochenende startete Russland dann Luftangriffe auf die wichtige Hafenstadt Odessa. Aus der Schwarzmeer-Metropole sind es nur noch knapp 60 Kilometer bis nach Transnistrien. Dort gebe es laut Minnekajew „ebenfalls Fälle von Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung“.
Die Einwohner des Operetten-Staates haben zu etwa je einem Drittel russische, ukrainische und moldauische Wurzeln. 465.000 Menschen sollen offiziell in dem schmalen Landstrich, der etwa eineinhalb Mal so groß ist wie das Saarland, leben. Zehntausende haben die Region, eine der ärmsten in Europa, auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand in den vergangenen Jahren verlassen.
Bis zu 2000 russische Soldaten stationiert
Transnistriens Streben nach Eigenständigkeit begann vor mehr als 30 Jahren. Als die Sowjetunion zerbrach, wehrte sich die überwiegend russischsprachige Bevölkerung gegen die von der Regierung in der Hauptstadt Chisinau betriebene Annäherung an den westlichen Nachbarn Rumänien. Im September 1990 spaltete sich Transnistrien ab. 1992 kam es zu einem kurzen Krieg mit Hunderten Toten, der durch den Eingriff des russischen Militärs ein Ende fand.
Seitdem ruhen die Waffen, gelöst ist der Konflikt jedoch nicht – nur eingefroren. Russland hat noch immer zwischen 1500 und 2000 Soldaten als „Friedenstruppen“ in Transnistrien stationiert.
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Seit Jahren laufen die Friedensbemühungen, mit durchwachsenem Erfolg. Über die Jahre normalisierten sich immerhin die Beziehungen auf beiden Seiten des Dnister so weit, dass Politik, Wirtschaft und Bürger miteinander im Austausch stehen.
Im grundsätzlichen Kurs unterschieden sich beide Seiten aber deutlich. Die Republik Moldau ist neutral, will aber an den Westen heranrücken, Chisinau strebt die EU-Mitgliedschaft an. Die Regierung Transnistriens orientiert sich, wie auch der Großteil der Bürger, streng an Moskau. Und das, obwohl viele Exporte in die EU gehen.
Warten auf Russland
Neidisch blickten vor acht Jahren viele in Transnistrien auf die Krim, als Wladimir Putin die Halbinsel in die Russische Föderation eingliederte. Bereits 2006 hatten sich die Einwohner Transnistriens in einem Referendum zu mehr als 97 Prozent für einen Beitritt zu Russland ausgesprochen. Mentalität und Geschichte seien russisch geprägt, heißt es in der Region.
Katharina die Große hatte sie im späten 18. Jahrhundert erobern lassen. Russland gilt in Transnistrien als der große Bruder. Der Kreml zeigte jedoch kein Interesse, die Separatisten zu integrieren, denn der Transnistrien-Konflikt ermöglichte es Moskau, Einfluss auf die Politik der gesamten Republik Moldau zu nehmen. Ziel im Friedensprozess waren aus Moskauer Sicht weitreichende Autonomierechte in den bestehenden Landesgrenzen.
Zugleich unterstütze der Kreml Transnistrien mit Geld und günstigem Gas. Ohne Moskaus Hilfe könnte der Pseudo-Staat nicht existieren. Schulsystem, Polizei, Militär und vieles mehr ist nach russischem Vorbild strukturiert.
Bereits nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine 2014 warnte die Nato, russische Truppen könnten aus dem Donbass über Odessa bis nach Transnistrien vorstoßen. Der Kreml plane die Wiederbelebung „Neurusslands“ hieß es, so lautete der Name des Gebiets am Schwarzen Meer schon zur Zarenzeit.
Enge Beziehungen zur Ukraine
Moldaus Außenminister Nicu Popescu erklärte bei einem Besuch in Washington wenige Tage vor Minnekajews Äußerungen, die Lage in Transnistrien sei „mehr oder weniger ruhig“, es gebe keine Anzeichen für ungewöhnliche militärische Aktivitäten.
Inzwischen wachsen allerdings die Sorgen. Am Freitag bestellte sein Ministerium den russischen Botschafter ein und forderte den Kreml auf, die „territorialen Souveränität“ und „Neutralität“ des Landes zu respektieren.
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Sollten russische Truppen tatsächlich nach Transnistrien vorrücken, könnten sie dort weniger willkommen sein als angenommen. „Nach unserer Einschätzung, gibt es nur sehr wenige Menschen in dieser Region, die ihre derzeitige Situation gegen einen Kriegsschauplatz eintauschen wollen“, erklärte Popescu der „Washington Post“ zufolge.
Aus der Führung Transnistriens gibt es zu Minnekajews Worten keinen Kommentar. Die Regierung hat die russische Invasion in der Ukraine bislang weder öffentlich unterstützt, noch verurteilt. Transnistrien pflegt enge Beziehungen zu seinem direkten Nachbarn, hat Tausende ukrainische Flüchtlinge aufgenommen.
Wadim Krasnoselski, Präsident der Separatistenrepublik, erklärte im März, er beobachte „mit Bestürzung und Bedauern die Ereignisse in der Ukraine“. Sein Außenminister Witali Ignatjew verkündete Mitte April: „Wir setzen uns ausschließlich für den Frieden und die Sicherheit aller Menschen ein, die in Transnistrien leben.“
In Medienberichten hieß es zuletzt, seit Kriegsbeginn habe es einen deutlichen Anstieg unter den Einwohnern Transnistriens gegeben, die einen moldauischen Pass beantragten.