Russland und Transnistrien: Droht die nächste Krise?
Der Zwergstaat Transnistrien hat bereits vor Jahren abgestimmt, und das Ergebnis war eindeutig: Fast alle hier wollen zu Russland gehören. Die Ukraine-Krise gibt ihnen neuen Auftrieb.
Das Schlachtfeld hat Sergej Alexandrowitsch Smiritschinskij gegen den Schreibtisch getauscht. Zwei Notizblöcke liegen darauf, der Lüfter eines großen Laptops brummt, hinter einem Drucker hat der hochgewachsene Mann mit den schneeweißen Haaren ein Fähnchen an die Wand geschoben: rot-grün-rot gestreift, darauf Hammer und Sichel. Es ist die Flagge der Pridnestrowskaja Moldawskaja Respublika, wie der Zwergstaat Transnistrien, der seit 1992 für seine Anerkennung kämpft, offiziell heißt.
Smiritschinskijs Schreibtisch steht in einem wenige Quadratmeter großen Büro im Zentrum der 150 000 Einwohner zählenden Hauptstadt Tiraspol. Die Wände sind gelb gestrichen. Besonders repräsentativ ist es nicht, das Büro des Vorsitzenden der Gesellschaftskammer, des offiziellen Bindeglieds zwischen Bürgern und der politischen Führung. Seit 22 Jahren kämpft Smiritschinskij von hier aus für ein und dasselbe Ziel: „Den Schutz und die Entwicklung Transnistriens“, wie er es nennt.
Was er meint, ist ein Zwei-Stufen-Plan: erst eine internationale Anerkennung seines Landes, dann der möglichst schnelle Anschluss an Russland. Die Bevölkerung kann er dabei hinter sich wissen. Bereits 2006 sprachen sich 97 Prozent der Transnistrier für die Eingliederung in die Russische Föderation aus. Sie hoffen, 222 Jahre, nachdem der russische Feldherr Alexander Suworow die Stadt Tiraspol 1792 im Südwesten des Reiches von Zarin Katharina der Großen gegründet hatte, das 86. „Föderationssubjekt“ Russlands zu werden.
Ungelöster Konflikt
Diese Pläne verursachen mancherorts – spätestens seit der Krise in der Ukraine – allerdings großes Unbehagen. Weil seit dem Bürgerkrieg 1992 in Transnistrien noch immer russische Soldaten stationiert sind – etwa 1500 sollen es sein – wächst in der Republik Moldau, im angrenzenden Rumänien und noch weiter im Westen jetzt die Angst, dass sich ein ähnliches Szenario wie auf der Krim, also erst ein Referendum und dann der Anschluss an Russland, wiederholen könnte. Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove hält sogar einen Durchmarsch russischer Truppen aus der Ukraine bis nach Transnistrien für möglich.
Smiritschinskij hätte nichts dagegen. 55 Jahre ist er heute alt. Im Bürgerkrieg war er Kompaniechef des Milizbataillons in der stark umkämpften Bezirksstadt Dubossary. Mit Orden und Medaillen hat man ihn geehrt. Am Revers des dunkelblauen Sakkos steckt ein kleines Logo mit Sowjetstern und Bajonett. Es ist das Zeichen der Veteranenbruderschaft von 1992. Die alten Kämpfer gehen manchmal in Schulen, um die Jugendlichen ebenfalls zu Patrioten Transnistriens zu erziehen.
Vor dem Bürgerkrieg war Transnistrien Teil der Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Während die Sowjetunion auseinanderfiel, spaltete sich Transnistrien ab, was die Regierung in der Hauptstadt Chisinau verhindern wollte. Allein auf transnistrischer Seite starben mehr als 800 Menschen. Nach Monaten des Kampfes ruhten zwar die Waffen, gelöst ist der Konflikt aber bis heute nicht. Der schmale Landstrich, eingequetscht zwischen dem gemächlich ins Schwarze Meer fließenden Dnjestr und der Ukraine, ist seitdem trotzdem faktisch unabhängig. Etwa eine halbe Million Menschen lebt in der Region, die Mehrheit davon spricht Russisch. Es gibt einen Präsidenten und eine Nationalhymne, Grenzposten und als Währung den transnistrischen Rubel. Nur die Anerkennung anderer Staaten fehlt. Erst vor ein paar Tagen appellierte der Präsident der selbst ernannten Republik an die Europäische Union, sein Land anzuerkennen. Das Parlament wandte sich in einer Resolution an Russland und die Vereinten Nationen.
Moskau unterstützt Transnistrien
Moskau unterstützt Transnistrien seit vielen Jahren mit Geld und günstigem Gas. Ohne die Hilfe könnte der Staat nicht existieren. Schulsystem, Polizei, Militär und vieles mehr ist bereits nach Moskauer Vorbild strukturiert. In den Wohnzimmern laufen russische Fernsehprogramme. Der Geheimdienst trägt den Namen KGB, das Parlament, wenige Minuten zu Fuß von Smiritschinskijs Büro entfernt, heißt „Oberster Sowjet“. Davor stellten sie eine große, steinerne Leninfigur auf. „Wir sind Russen“, sagt deshalb auch Smiritschinskij. „Ein Land, eine Nation.“
Stolz auf das sowjetisch-russische Erbe Transnistriens ist nicht nur in den Räumen der Gesellschaftskammer zu hören, sondern auch draußen auf den Straßen von Tiraspol. Die Menschen sagen, dass sie schon „lange auf ein Szenario wie auf der Krim warten“. Also auf einen Anschluss. Eine Frau um die 50 erklärt: „Alle hoffen darauf.“
So richtig will aber niemand an schnelle Lösungen glauben. Denn Russland hätte die kleine Region, etwa eineinhalb Mal so groß wie das Saarland, im Grunde längst aufnehmen können.
Tatsächlich hat aber selbst Russland Transnistrien nicht als souverän anerkannt. Sollte die Region nicht mehr wie ein Stachel in der Republik Moldau sitzen, hätte Moskau kaum noch Einfluss auf Moldau, dessen Regierung einen klaren Kurs in Richtung Europa fährt. Vor wenigen Tagen erst besuchte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Hauptstadt Chisinau, um die Republik Moldau an die EU zu binden. Im Juni soll ein Assoziierungsabkommen formuliert werden. Deshalb will selbst Russlands Präsident Wladimir Putin eine Lösung des Konflikts in regelmäßig tagenden internationalen Runden finden. Am Ende soll auch aus offizieller russischer Sicht nicht die Anerkennung Transnistriens als Staat stehen, sondern nur anerkannte und weitreichende Autonomierechte der Region in den bestehenden Grenzen von Moldau.
Von einem Anschluss an Russland erhoffen sich die Menschen ein besseres Leben. Transnistrien ist eine der ärmsten Regionen in Europa. Auf der Suche nach besseren Jobs und mehr Perspektiven haben in den vergangenen 25 Jahren mindestens 200 000 Menschen ihre Heimat verlassen. Sie gehen nach der Schule, spätestens nach dem Uni-Abschluss, meist nach Russland oder in die Ukraine, seltener in den Westen – dafür fehlen Möglichkeiten, Wissen und Interesse.
Wer einen ukrainischen Pass besitzt, will nicht mehr über die Grenze
Trotz Armut sieht man auch in Tiraspol moderne Geländewagen vor den heruntergekommenen grauen Hochhäusern parken, auf der Straße fahren Autos von Porsche und Mercedes. Jugendliche sitzen in Cafés bei Sushi und Latte Macchiato und spielen auf iPhones herum. Zwischen die jahrzehntealten Plattenbauten wurden neue Villen gebaut, hinter blickdichten Zäunen und hohen Steinmauern. Wer dort lebt? Wahrscheinlich Vertreter der Regierung und Geschäftsleute, heißt es auf der Straße. Das Geld stamme womöglich aus illegalen Machenschaften. In der Vergangenheit hat sich Transnistrien einen Namen als Schmugglerparadies gemacht. Vielleicht stammt das Geld auch aus der weit verbreiteten Korruption, so genau weiß das hier keiner und will es auch keiner wissen. Die Regierung ist streng und der Geheimdienst bisweilen furchteinflößend.
Jenseits der Einkaufsstraßen begegnet man in den Supermärkten jedoch Kunden, die an der Kasse um Kopeken feilschen, wenn Kassiererinnen beim Wechselgeld zu eigenen Gunsten aufrunden. Viele Transnistrier verdienen oft nicht mehr als umgerechnet 200 bis 300 Dollar.
Zu wenig, um regelmäßig ins Café „Sieben Freitage“ zu gehen. Für die Besserverdienenden ist das einer der angesagten Treffpunkte der Stadt, trotz der unbequemen Kunstledersessel und den kitschigen Papierherzen, die von der Decke baumeln. Hierhin hat auch Wladimir Jastrebtschak geladen.
Jastrebtschak trägt Anzug und Krawatte und das Haar gescheitelt. Er war bis 2012 der Außenminister Transnistriens, arbeitete für ein Mobilfunkunternehmen und ist heute Dozent für Jura und Politik an der örtlichen Universität. Genug Beschäftigung für ein ganzes Arbeitsleben, doch Jastrebtschak ist gerade einmal Mitte 30. Er bestellt Tee und erzählt von der Ukraine und den Auswirkungen für Transnistrien. Viele sind beunruhigt, weil sie der Meinung sind, in Kiew regierten „Kriminelle“ und „Faschisten“, sie fürchten einen möglichen Bürgerkrieg im Nachbarland.
Hoffen auf die Anerkennung
Transnistrien ist auch von der Ukraine abhängig. Ein großer Teil der täglichen Versorgung läuft über den Hafen von Odessa, nur 100 Kilometer entfernt. Zudem führen Gas- und Telefonleitungen nach Transnistrien durch den Nachbarstaat.
Männer mit russischem Pass dürften nicht mehr in die Ukraine einreisen, erzählt Jastrebtschak, weil Kiew die Unterstützung pro-russischer Proteste fürchte. Wer in Transnistrien einen ukrainischen Pass besitzt, so der Ex-Minister, wolle nicht mehr über die Grenze, aus Angst, dass man ihn zur Armee einberuft.
Auch Jastrebtschak hofft auf die Anerkennung seiner Heimat. „Wieso dürfen einige Regionen über ihre Unabhängigkeit entscheiden und wir nicht?“ Aber er glaubt nicht daran, dass sich am Status schnell etwas ändert. „Russland ist gerade mit anderem beschäftigt“, sagt Jastrebtschak und meint damit die Ukraine. Überhaupt agiere Transnistriens Regierung zurückhaltend, sagt er. So gibt es die Bitte um Anerkennung, aber nicht die Forderung nach einem neuen Referendum oder dem Anschluss an Russland. Fraglich ist jedoch, wie lange das noch so bleibt. Unter den Einwohnern, sagt Jastrebtschak, wachse indes die Zustimmung für den Beitritt zu Russland immer weiter und das unabhängig von der Herkunft der Menschen, die zu jeweils knapp einem Drittel aus russischen, ukrainischen und moldauischen Familien stammen.
Doch nicht alle denken so. Ein älterer Mann jenseits der 60 ist einer der ein, zwei Dutzend Rentner, die fast jeden Tag auf die kleine Wiese im Stadtzentrum kommen, gleich hinter dem Reiterdenkmal des Stadtgründers, um auf einem improvisierten Flohmarkt ihre Habseligkeiten zu verkaufen. Sie bessern so ihre Rente auf.
Nach Westen orientieren
Der Nachmittag ist fast vorbei, alle sind bereits gegangen, nur der Alte mit den kurzen weißen Haaren ist noch im Park und packt zusammen. Bücher, Jeans, Pullover, Hemden und eine alte Küchenreibe räumt er in Pappkartons und Plastiktüten. Es war kein guter Tag für ihn heute. Nur 16 Rubel hat er eingenommen, so gut wie nichts. Vom Staat bekommt er knapp 50 Euro im Monat. Moskau legt für jeden Rentner zusätzliche zehn Euro drauf. Für die Menschen hier ist das ein wichtiger Bonus. Ein Freund Russlands ist der Rentner dennoch nicht.
Er ist an der Grenze zur Ukraine aufgewachsen, studierte im Ural und kehrte zur Hochzeit in seine Heimat zurück – die aber nennt er nicht Transnistrien. Er besitzt einen moldauischen Pass und ist rumänischer Herkunft. „Tiraspol ist eine Stadt in Moldau“ sagt er. So wie München doch auch in Bayern liege und trotzdem eine deutsche Stadt sei, wie er das formuliert. „Transnistrien ist ein Teil von Moldau.“ Wer moldauischer oder rumänischer Herkunft ist, muss in Transnistrien mitunter mit Diskriminierungen rechnen. Auch der Mann auf der Wiese hat schon unangenehme Erfahrungen mit den Behörden gemacht.
Den Menschen in Transnistrien gehe es doch nur um Gas und Geld aus Moskau, sagt er. Pläne für die Zukunft? Fehlanzeige. Der Rentner vom Flohmarkt ist deshalb für die Vereinigung von Moldau mit dem Nachbarstaat Rumänien. „Das ist doch ein Land“, erklärt er. Dann, so glaubt er, würde sich auch Transnistrien nach Westen orientieren und an die Europäische Union heranrücken. „Ein Teil Russlands war Transnistrien doch schon seit Katharina der Großen“, sagt er. Lange genug, findet er.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.