Linke-Politiker Gregor Gysi: "Rot-Rot-Grün ist historisch notwendig"
Die Union kann Teile der AfD-Wählerschaft nur dann integrieren, wenn sie in der Opposition ist, sagt Gregor Gysi. Seine Linke müsse neue Wähler gewinnen.
Herr Gysi, aus Sicht von Sahra Wagenknecht ist die Linke für viele zum Teil des unsozialen Parteienkartells geworden. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich will es mal so sagen: Wir gelten für die Leute inzwischen als etabliert, zumindest im Osten. Das heißt, wir sind für sie nicht mehr die Protestpartei. Das ist ein Problem. Und wenn wir uns an Regierungen beteiligen, so wie wir das in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen gemacht haben oder machen, das unterstreicht den Ruf, dass wir zum Establishment gehören. Aber unsozial? Soziale Forderungen stellen wir ja durchaus verschärft. Nur dort wo wir mitregieren, sind wir an die sozialen Möglichkeiten des einzelnen Bundeslandes gebunden. Zaubern können wir auch nicht.
Die Linke bekommt praktisch gar keine Stimmen von Protestwählern mehr. Wollen Sie das ändern – und wenn ja, wie?
Wir müssen neue Wähler gewinnen. Es gibt Protestler, die gehen gar nicht wählen, wenn sie nicht die entsprechende Partei dafür finden. Es gibt aber auch solche, die kann man gewinnen, wenn sich der Protest in Bezug auf die AfD erledigt. Mich ärgert, wenn Ärmere die AfD wählen, weil sie nicht wissen, was in deren Programm steht. Diese Partei will Renten kürzen, Hartz IV kürzen, ist gegen die Vermögenssteuer und eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Sie hat ein asoziales Programm. Hauptsächlich wird die AfD über ihre Positionen zur Flüchtlingspolitik wahrgenommen – und da verkaufen sie eine Illusion.
Wie meinen Sie das?
Stellen Sie sich mal vor, wir bauen um Europa oder Deutschland eine Mauer, so wie das AfD das will. Vielleicht, so wie Frau von Storch das fordert, mit ein bisschen Schießbefehl. Eine solche Mauer würde von Millionen gestürmt. Und dann entsteht eine unbeherrschbare Situation, denn die eigentlichen Probleme hat man wegen der erreichten Pause nicht einmal versucht zu lösen.
Wie wollen Sie die AfD wieder kleiner bekommen?
Wir müssen die Union in die Opposition schicken. Dann kann sie einen Teil der AfD-Wählerschaft integrieren. Frau Merkel hat die AfD insofern ermöglicht, weil sie die Union teilweise sozialdemokratisiert hat. Gerhard Schröder und seine Nachfolger haben die SPD entsozialdemokratisiert. Die sind so zusammengerückt worden. Die AfD füllt eine Lücke. Keine einfache Situation.
Ärgert sie denn gar nicht, wenn Frau Wagenknecht die Linke mit einordnet zum unsozialen Parteienkartell?
Sie ist ja meine Nachfolgerin und hat das Recht auf ihre Analysen. Und ich mache meine. Eine Partei muss immer breiter aufgestellt sein. Bei bestimmten Fragen wäre es gut, wenn man eine Auffassung hätte. Zum Tierschutz kann man auch unterschiedlicher Auffassung sein.
Sie selbst haben vor einigen Monaten mächtig Staub aufgewirbelt mit ihrer Einschätzung, die Linke sei saft- und kraftlos.
Das stimmt nicht. Ich habe gesagt, sie sei etwas saft- und kraftlos. Aber das habe ich gesagt und das meinte ich auch so. Wir müssen uns ernsthaft Gedanken machen, wie wir an mehr junge Leute rankommen. Das ist eine große Sorge von mir.
Sehen Sie sich denn nach dem Desaster ihrer Partei bei der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern bestätigt?
Nein, das würde ich nicht sagen. Es hat schon einen Ruck gegeben. Was ich gesagt hatte, hat schon viele erschreckt und aufgeregt. Trotzdem: Wir sind überaltert. Im Westen nicht so wie im Osten. Für die jungen Leute fällt uns nicht so richtig etwas ein. Wer rassistisch und nationalistisch denkt, wird von der AfD erreicht, auch bei den jungen Leuten. Aber wir erreichen die, die nicht so denken, nicht genügend.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern analysiert, wenn sich Linke nicht mehr gegen rechte Stimmungen behaupten können, sei das Problem mehr als ernsthaft.
Ja, klar. Das kennen wir schon aus der Geschichte. Für die Linken stellt sich in der Konsequenz die Aufgabe, dass sie um das Kleinbürgertum werben müssen. Das machen sie nicht gerne, vor allem nicht die radikaleren Linken, weil ihnen dessen Kultur fremd ist. Vor 1933 haben sowohl KPD als auch SPD das Kleinbürgertum intellektuell vernachlässigt und damit fast vollständig der NSDAP überlassen. Im Osten haben wir das mit dem Kleinbürgertum ganz gut geschafft, über viele Jahre. Aber jetzt wird es schwierig, weil dort Ängste entstanden sind, abstrakte Ängste wegen der Flüchtlinge. Deshalb geht ein Teil zur AfD. Der Zustand dieser Partei ist denen egal. Die AfD kann sich noch so viel streiten, das interessiert deren Wähler nicht, weil sie bloß protestieren wollen. Sie freuen sich, wenn sich alle anderen über die AfD-Resultate aufregen. Die Armen gehen gar nicht so sehr nach rechts. Eher die, die etwas zu verlieren haben und Angst davor haben, dass es geschieht.
Ist das wirklich nur Angst vor Armut – oder nicht doch Ausländerfeindlichkeit?
Es kommt alles zusammen. Fremdheit, es muss ja gar nicht Ausländerfeindlichkeit sein. Im Fernsehen sehe ich zwei Araber. Der eine ruft so laut nach Allah, dass mir ganz komisch wird. Und der andere sprengt sich gerade in die Luft. Die Millionen Muslime, die fleißig arbeiten und ganz friedlich sind, bekomme ich nicht gezeigt. Auch daraus erwachsen abstrakte Ängste.
Warum ist der Zuspruch zur AfD im Osten größer als im Westen?
Die Menschen im Osten haben soziale Verwerfungen erlebt, die im Westen nicht. Du warst in einer gehobenen Stellung, warst anerkannt, und bist ganz tief gefallen 1990, wurdest arbeitslos. Dazu kommt: Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Die DDR-Bürger sollten Deutsche werden, dann Europäer und nun auch noch Weltbürger. Das überfordert auch in bestimmter Hinsicht. Es sind abstrakte Ängste. Dort, wo Menschen muslimischen Glaubens leben, wird viel weniger rechtspopulistisch oder rechtsextrem gewählt als dort, wo es sie kaum gibt.
Sollte die Linke in den Chor der Kritiker von Merkels Flüchtlingspolitik einstimmen?
Merkel muss man kritisieren, das mache ich auch ständig. Zum Beispiel sagt sie „Wir schaffen das“ und dann vergisst sie, das Geld an die Kommunen zu überweisen. Ich kritisiere nicht Merkels Satz, sondern dass sie die Bedingungen dafür nicht herstellt. In Wirklichkeit macht sie doch längst alles, was die AfD fordert: Wir machen die Grenzen eher dicht, wir schieben immer mehr ab. Nur ihr Ruf ist ein anderer, aber der Ruf wird ihr nicht mehr gerecht. Die Regierung ist zerstritten und insgesamt überfordert. Gegen Überforderung ist es schwer, eine wirksame Opposition zu entwickeln.
Hat Merkel die AfD stark gemacht?
Ja, weil sie bestimmte Teile der Bevölkerung nicht mehr integriert hat. Die Union muss konservativ sein, sie ist für konservative Interessen zuständig.
Sie basteln gerade wieder an Rot-Rot-Grün.
Es geht mir nicht um eine Regierungskonstellation oder Ministerposten, sondern um die historische Verantwortung. Wenn die Union nicht in die Opposition geschickt wird, wird die AfD immer stärker. Die CDU hat eine Aufgabe, die kein anderer erledigen kann. Sie kann Teile der AfD integrieren. Wenn eine rot-rot-grüne Regierung dann die sozialen Fragen deutlich besser löste, erledigte sich dadurch zum Teil auch die AfD.
Ist denn Rot-Rot-Grün nach der Abgeordnetenhauswahl schon in trockenen Tüchern?
Natürlich nicht. Aber die Ehe SPD-CDU ist wirklich scheidungsreif. Es wäre nicht unwichtig, wenn in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin Regierungen aus SPD und Linken gebildet würden. Dann haben wir den Druck auf den Bund, Druck auf die SPD, auch die Grünen und uns. Bundespräsidentenwahl muss nicht sein, aber es wäre doch ganz schön, wenn sich diese drei Parteien auf eine Kandidatin verständigten.
Also haben Sie Rot-Rot-Grün auch für den Bund nicht abgeschrieben?
Nein. Weil es historisch notwendig ist. Das heißt natürlich nicht, dass das passiert, was historisch nötig ist. Wenn wir die AfD im Bundestag haben und sie vier Jahre später doppelt so stark ist, weil die CDU im Kern wie bisher weiter regiert hat, müssen Sie wenigstens schreiben: Das hat der Gysi schon vorher gesagt. Nutzt dann aber auch nichts mehr.
Sie sind nun seit fast einem Jahr nicht mehr Fraktionschef. Wie sehen Sie selbst Ihre Rolle, als väterlicher Ratgeber, als designierter Ehrenvorsitzender?
Einen Ehrenvorsitzenden brauchen wir nicht mehr. Ich bin natürlich Politiker und bleibe politisch wahrnehmbar. Ich will Ratschläge geben in Fragen, die mir wichtig sind. Aber ich will keine Ersatz-Führungsrolle, ich will auch nicht immer die Gegenüberstellung mit Sahra.
Gregor Gysi (68) war viele Jahre lang Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. Im Oktober vergangenen Jahres gab er das Amt ab an seine Nachfolger Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch. Das Gespräch führte Matthias Meisner.