Angela Merkel und die Flüchtlingspolitik: "Wir schaffen das" – Ein Satz, der polarisiert
Genau vor einem Jahr setzte Angela Merkel den inzwischen legendären Satz in die Welt: "Wir schaffen das." Wie fällt heute das Urteil darüber aus?
Anlässlich des Jahrestages des Kanzlerinnen-Satzes "Wir schaffen das" haben Politiker und Vertreter gesellschaftlicher Organisationen eine gemischte Bilanz der deutschen Integrationspolitik in dieser Zeit gezogen. Am 31. August 2015 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor dem Hintergrund massiver Flüchtlingsbewegungen auf ihrer Sommerpressekonferenz angekündigt, die deutsche Flüchtlingspolitik werde das Asylrecht achten und sich am Grundsatz der Menschenwürde orientieren. "Deutschland ist ein starkes Land", erklärte Merkel damals im Hinblick auf die Aufnahme von Flüchtlingen: "Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das."
Der programmatisch gemeinte Satz steht seither symbolisch für Merkels Flüchtlingspolitik und ist in Gesellschaft und Politik zum Gegenstand zahlreicher Kontroversen geworden. Wenige Tage nach der Pressekonferenz entschied sich die Kanzlerin, die Grenzen nicht vor den aus Ungarn weiterziehenden Flüchtlingen zu schließen. In den folgenden Monaten kamen insgesamt rund eine Million Flüchtlinge nach Deutschland.
Deutschland habe "mehr zustande gebracht, als uns zugetraut wurde", bilanzierte am Dienstag Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) im Deutschlandfunk. Der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung räumte aber ein, dass zu Beginn der Flüchtlingskrise "manche Erwartungen nicht erfüllt" worden seien. Inzwischen seien auf europäischer Ebene mit dem Schutz der Außengrenzen aber Fortschritte erzielt worden. Er sei davon überzeugt, "dass ein Land, das sich seiner humanitären Verantwortung stellt, dass ein Land, das Menschen in Not hilft, dass ein solches Land insgesamt auch moderner und erfolgreicher ist in einer globalisierten Welt".
Auch Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU), wie Altmaier ein enger Vertrauter Merkels, sprach von einem Erfolg. Dank des herausragenden Einsatzes vieler Menschen in Staat und Gesellschaft sei "enorm viel erreicht" worden. Darauf können wir stolz sein, sagte der Minister: "Klar ist aber auch, dass noch viel zu tun bleibt." Die Verfahren müssten noch schneller abgeschlossen werden, Integration derjenigen mit Bleibeperspektive müsse gelingen und diejenigen ohne Bleibeperspektive müssten Deutschland "möglichst rasch wieder verlassen".
Volker Bouffier: "Außergewöhnliche Situation"
Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier sagte dem Tagesspiegel: "Die damalige Situation war außergewöhnlich. Diese besondere Lage hat die Bundeskanzlerin zu diesem Satz veranlasst. Seitdem haben wir eine Menge geschafft und wenn wir uns klug anstellen, dann werden wir es auch schaffen, die noch vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen." Mit der Aufnahme von über einer Million Flüchtlinge sei viel geleistet worden. Allein Hessen habe mehr als 80000 Schutzsuchende aufgenommen. "Gleichzeitig wurden mit der Schließung der Balkanroute und dem Türkei-Abkommen Weichenstellungen getroffen, die den Flüchtlingszuzug deutlich abgemildert haben. Auf der anderen Seite ist es umso wichtiger, in den Krisenregionen im Nahen Osten und in Afrika die Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen", sagte Bouffier. Nun gelte es, "die gelingende Integration" gut fortzuführen und entsprechend zu planen. "Dies ist nicht nur für die Flüchtlinge wichtig, sondern auch für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Integration muss sich dabei an den Regeln orientieren, die hier geltend und bindend sind. Unter geregelten Voraussetzungen und mit dem richtigen Plan haben wir gute Chancen, dass uns das gelingen wird."
Der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) nannte Merkels Satz dagegen "provozierend". Dem Tagesspiegel sagte der ehemalige CSU-Parteichef: "Der Satz war gut gemeint, aber er verkannte beziehungsweise erklärte nicht die historische Dimension der jahrelangen Integrationsanforderungen für unser Land und er überforderte die Europäische Union." Inzwischen würden die Menschen in Deutschland die großen Anforderungen, aber auch ihre eigenen Grenzen kennen. "So pauschal klingt der Satz ein Jahr später für die Mehrheit eher provozierend", kritisierte Stoiber. Die CSU hält Merkels offene Flüchtlingspolitik nach wie vor für falsch und fordert von ihr eine Umkehr.
Stephan Weil: Merkel hat allzu viele Hoffnungen geweckt
Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) urteilte, Merkel habe mit dem Satz überzogene Erwartungen provoziert. Der Satz habe vor einem Jahr "die ungesagte Unterzeile '... mit einer unbegrenzten Aufnahme'" gehabt. "Damit wurden allzu viele Hoffnungen geweckt und zugleich eine deutsche Sonderrolle in Europa begründet, die Deutschland bei allem guten Willen auf Dauer überfordern würde", sagte der SPD-Politiker dem Tagesspiegel. Bundespräsident Joachim Gauck habe im vergangenen Herbst die besseren Worte gefunden, als er erklärte: "Wir wollen helfen, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt." Gaucks Urteil sei richtig, wenn man hinzufüge, dass dazu "ein Kraftakt der ganzen Gesellschaft" notwendig sei. "Vieles ist dafür begonnen worden, aber vieles muss auch noch geschehen", erklärte Weil und fügte hinzu: "Und vor allem muss der Bund sich mit ganzer Kraft dieser Aufgabe stellen - das geschieht bis jetzt nur halbherzig."
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) nahm zum Jahrestag ebenfalls Stellung. Die Union bleibe hinter dem Satz "Wir schaffen das" von Merkel zurück, beklagte Schwesig am Dienstag. Die SPD stehe zu der Aufnahme von schutzsuchenden Migranten. "Aber wir wollen auch, dass wir es gut machen." Schwesig sagte, die Kritik ihrer Partei richte sich dagegen, "dass Frau Merkel nur den Satz sagt 'Wir schaffen das' - aber dass dann Frau Merkel und ihre Union alles, was zur Integration hilft, erschweren."
Als Ministerin erlebe sie, dass sie um jeden Cent kämpfen müsse; etwa für mehr Kita-Plätze, "damit es kein Gerangel gibt zwischen Einheimischen und Flüchtlingskinder". Auch bei der Finanzierung von Sprachkursen oder bei den Schutzvorschriften für Kinder und Frauen in Flüchtlingsunterkünften gebe es Widerstände aus der Union, fügte sie hinzu. "Wenn wir all das erleben, fragen wir uns schon: Was ist denn dran an dem Satz 'Wir schaffen das'".
DGB-Chef Reiner Hoffmann sagte dem Tagespiegel, die Integration von Flüchtlingen sei "eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die noch viele Anstrengungen erfordert". Dabei müsse die Integration in gute Arbeit Vorrang haben. "Hier sind die Unternehmen gefordert", erklärte der Gewerkschafter: "Die Not der Flüchtlinge darf nicht durch Billigjobs und Dumpinglöhne missbraucht werden." Die Kommunen stünden vor einer Herkulesaufgabe. "Sie müssen deswegen dringend finanziell entlastet werden und es muss in Bildung und sozialen Wohnungsbau für alle investiert werden."
Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Eric Schweitzer, warnte vor der Erwartung, dass Integration schnell gelingen könne. "Bis zur vollen Integration eines Flüchtlings in den Arbeitsmarkt dürften in der Regel fünf bis zehn Jahre vergehen", sagte er: "Asylverfahren, Sprachkenntnisse und Ausbildung - all das braucht Zeit." Die IHKs leisteten mit ihrem Aktionsprogramm "Ankommen in Deutschland – Gemeinsam unterstützen wir Integration" zahlreiche Beiträge zur Integration - mit 170 Mitarbeitern und einem Budget von 20 Millionen Euro im Jahr 2016. Zudem habe der DIHK wir mit dem Wirtschaftsministerium das Netzwerk "Unternehmen integrieren Flüchtlinge" gegründet, an dem sich inzwischen über 800 Betriebe beteiligten.