Wollte Russland schon Samstag den Sieg feiern?: Panne bei russischen Staatsmedien offenbart Kalkulationen des Kremls
Russische Staatsmedien verkündeten in einem Text am Samstag vorzeitig einen Sieg Russlands. Er gibt Einblicke in die ideologischen Motive des Kremls.
Eine Panne in den russischen Staatsmedien am Samstag erlaubt einen Einblick in die Kalkulationen des Kremls im Krieg gegen die Ukraine: Offenbar ging die russische Führung von einem eindeutigen und schnellen Sieg gegen die ukrainischen Streitkräfte aus.
Der Widerstand der ukrainischen Armee, wie er bei der Verteidigung Kiews am Samstag und der Stadt Charkiv am Sonntag deutlich wurde, war offenbar eine Überraschung für den Kreml.
[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen]
Darauf lässt ein Online-Kommentar schließen, den die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti und das Propaganda-Portal Sputnik am Samstagmorgen veröffentlichten – und wieder löschten. Offenbar hatte es sich bei dem Artikel um einen vorbereiteten Text gehandelt, der veröffentlicht werden sollte, sobald Russland die Ukraine militärisch besiegt haben würde.
Der Artikel ist weiterhin über das Online-Archiv „Wayback Machine“ aufrufbar. Er offenbart die Ziele und ideologischen Motive hinter dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – und fällt noch deutlicher mit geschichtsrevisionistischen und nationalistisch-imperialistischen Argumenten auf als bisherige Äußerungen russischer Politiker.
Es beginnt bereits mit dem Titel: Er enthält eine Doppeldeutigkeit, denn „Наступление России и нового мира“ kann sowohl mit „Der Aufbruch Russlands und der neuen Welt“ übersetzt werden, als auch mit „Der Angriff Russlands und der neuen Welt“.
Mit der „neuen Welt“, so legt der Kommentar nahe, ist auch eine neue „russische Welt“ (Russki Mir) gemeint. Das Konzept der Russki Mir war ursprünglich ein kulturelles, das alle russischsprachigen Menschen und Nationen als eine Gemeinschaft versteht.
In seiner ideologisierten Form wird es von Russland allerdings „zur Legitimierung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum eingesetzt“, wie Ulrich Schmidt, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, in einem Beitrag für das russisch-deutsche Medienportal „Dekoder“ analysiert.
Wie Russland eine neue Welt heraufbeschwören will
Und so schreibt auch Ria-Kolumnist Pjotr Akopov in der mittlerweile gelöschten Kolumne, dass „vor unseren Augen“ eine „neue Welt geboren“ wird. Die „russische Militäroperation“, wie auch Putin den Angriffskrieg in der Ukraine bezeichnet, habe eine neue Ära eingeläutet.
Die russische Welt, das seien die drei Staaten Russland, Belarus und die Ukraine, würde geopolitisch als Union handeln. Sie sind die drei Nachfolgestaaten der Kiewer Rus, einem historischen Gebiet, das sich über die heutige Ukraine, Belarus und westliche Teile Russlands erstreckte.
Die Ukraine bezeichnet Akopov als „Kleinrussland“. Der Name „Kleinrussland“ existierte seit dem 14. Jahrhundert für Gebiete auf dem heutigen Territorium der Ukraine und auch im Russischen Kaiserreich wurde der Begriff benutzt: Dem damaligen Verständnis nach konnte man die Russen in drei Gruppen einteilen – die Großrussen, die Kleinrussen und die Weißrussen. Diese geschichtlichen Analogien zeigen, wie das heutige Russland sich inszenieren möchte: Als ebenso groß und mächtig wie es das Kaiserreich war.
Mehr zum russischen Angriff auf die Ukraine:
- Osteuropa-Historiker Karl Schlögel: „Putin will auch den Westen in die Knie zwingen“ (T+)
- Angebliche Demütigung des eigenen Landes: Wo Putins Strategie Parallelen zu Hitler aufweist (T+)
- Ex-Politiker bei russischen Unternehmen: Warum einige Lobbyisten des Kremls hinschmeißen – und andere nicht (T+)
- Schnelle Eingreiftruppe an die Ostgrenze: Die Nato muss sich auf „Worst Case“-Szenarien einstellen (T+)
- Wenn die Kriegsangst übermächtig wird: „Wir stehen in Deutschland nicht vor rollenden Panzern“ (T+)
Russland habe seine historischen Grenzen in Europa zurückerlangt – und der Westen würde sich lautstark darüber ärgern, schreibt Akopov. Russland sei dabei, seine Einheit wiederherzustellen und die Tragödie von 1991 – also der Zerfall der Sowjetunion – sei überwunden. Damit referiert er Putins Sicht, der schon 2005 in seiner Rede zur Lage der Nation das Ende der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnete.
Diese Einheit habe „einen großen Preis“, heißt es in der Kolumne weiter. Damit spielt der Text auf Verluste auf russischer Seite im Ukraine-Krieg an. Als der Text am Samstagmorgen veröffentlicht wurde, erwähnten die russischen Behörden nichts von gefallenen russischen Soldaten.
Erst am Sonntag gab das Verteidigungsministerium zu, dass russische Soldaten getötet worden sind. Allerdings ohne eine Zahl zu nennen. Den ukrainischen Behörden zufolge sollen über 4500 russische Soldaten gefallen sein – unabhängig bestätigen lassen sich die Angaben jedoch nicht.
Russland will dem Westen seinen Einfluss absprechen
Der Ria-Kolumnist stellt die russischen Opfer des Krieges als Opfer eines „Bürgerkrieges“ dar, in dem „Brüder aufeinander schießen“. Diese Äußerungen machen klar: Russland sieht die Ukraine als Teil Russlands. So hatten Wladimir Putin und der russische Außenminister Sergej Lawrow in den vergangenen Tagen und Wochen häufig betont, dass sie die Ukraine nicht als legitimen, demokratischen Staat anerkennen.
Laut Ria-Kolumnist Akopov habe Wladimir Putin – „ohne einen Tropfen Übertreibung“, wie er noch betont – eine historische Verantwortung auf sich genommen, indem er beschlossen habe, die „Lösung der ukrainischen Frage nicht künftigen Generationen zu überlassen“.
Denn die „Rückgabe der Ukraine an Russland“ wäre, so seine und offenbar auch die Sicht der russischen Staatsführung, mit jedem Jahrzehnt schwieriger geworden. Denn die „Umcodierung“ und „Derussifizierung“ von Russen in der Ukraine würde weitergehen.
Damit spricht der Kolumnist der Ukraine ihre Unabhängigkeit ab, die sich mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 konstituierte - und zeigt ein weiteres Mal: Die Minimierung der russischen Einflusssphäre seit 1991 ist eine Entwicklung, die Putin offenbar rückgängig machen möchte.
Um dies zu legitimieren, wird das Narrativ der „Derussifizierung“ eingesetzt - es suggeriert, Russland müsse eine Hinwendung der Ukraine zum demokratischen Westen verhindern. Denn - aus der Sicht des Kreml, so zeigte die bisherige Argumentation - sei die Ukraine integrer Teil der russischen Einflusssphäre, der „russischen Welt“.
Das Wort-Case-Szenario des Kremls
Das Worst-Case-Szenario für Russland, so scheint es, sei die „vollständige geopolitische und militärische Kontrolle der Ukraine durch den Westen“. Damit wird das russische Narrativ der westlichen Gefahr gegenüber Russland genährt.
„Jetzt ist dieses Problem gelöst“, schreibt Akopov. „Die Ukraine ist zu Russland zurückgekehrt.“ Die Staatlichkeit der Ukraine solle erhalten bleiben, aber „umstrukturiert“ werden. Innerhalb welcher Grenzen allerdings, das sei noch nicht klar. Diese Sätze bestätigen Einschätzungen von Russland-Experten, dass Putin geplant hatte, erneut eine pro-russische Regierung in der Ukraine zu installieren.
Das ist der eine vermeintliche Triumph, den die Staatsmedien zu früh feierten. Der zweite betrifft gleich die gesamte Welt: „Russland hat den Westen nicht nur herausgefordert, sondern ihm auch gezeigt, dass die Ära der westlichen globalen Dominanz endgültig vorbei ist“, heißt es in der Kolumne zum Schluss. Die neue Welt werde nicht zu den Bedingungen des Westens und auch nicht nach seinen Regeln aufgebaut.