FDP-Parteitag in Berlin: Parteichef Lindner zeigt neues Selbstbewusstsein
Den Parteitag gruselt es wohlig, als Christian Lindner die Düsternis von 2013 beschwört. Damals stand die FDP vor dem Nichts, nun ist sie auf einmal wieder da – und erlaubt sich Mut zur Farbe.
Als er den Slogan das erste Mal gelesen hat, erzählt Wolfgang Kubicki, hat er gedacht, was das denn sein soll: „Berta-Republik?“ Er hat dann aber noch mal genauer hingeguckt auf das Parteitagsmotto – „Beta Republik Deutschland“ – und sich die Sache erklären lassen. Na ja, so ungefähr jedenfalls. Beta-Software, sagt er, das seien Programme, „die ihre Fehler selbst ausmerzen müssen im Prozess“.
Wieder haarscharf daneben. Aber Kubicki stammt aus der Zeit, als Telefone Scheiben zum Drehen hatten und die FDP die Republik mitregierte. Dahin will er zurück. Also, was das Regieren angeht, nicht die Telefone.
Über das „Beta“ als sinnstiftenden Wegweiser wird nachher noch genauer zu reden sein.
Am Samstag prangt das Motto groß auf der Leinwand hinter der Parteitagstribüne und klein auf der Brust der vielen Helfer in der „Station“ am Gleisdreieck in Berlin. Die frühere Fabrikhalle ist inzwischen quasi Traditionsort; seit dem Absturz-Parteitag nach dem Bundestags-Aus 2013 findet die freidemokratische Heerschau hier statt.
Das ist praktisch und kostengünstig, und als kleinen Nebeneffekt erleichtert es den Vergleich. Auch darüber wird noch zu reden sein.
Aber zuerst kommt eine Pflicht. Punkt elf Uhr geht das Licht im Saal aus. Nur auf Christian Lindner am Rednerpult bleibt ein Spot gerichtet, rechts und links von ihm auf den Leinwänden erscheinen zwei Schwarzweiß-Fotos. Die Freie Demokratische Partei nimmt Abschied von ihren beiden prägenden Gestalten. Hans-Dietrich Genscher, den Alten, würdigt der junge Parteichef als „eine der größten Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland“, Guido Westerwelle, den zu jung Verstorbenen, als einen Kämpfer: „Eine ganze Generation hat er motiviert – oder provoziert.“ Noch einmal ziehen Jahrzehnte ihrer Geschichte vor den Augen der Delegierten entlang, lauter Schwarzweißfotos, von Genscher mit Helmut Schmidt bis Westerwelle mit dem Generalsekretär Lindner. Kubicki muss überleiten ins Jetzt. „The show must go on, wie Guido Westerwelle gesagt hat“, sagt der Schleswig-Holsteiner.
Damit ist die alte Geschichte abgeschlossen, und Christian Lindner kann eine neue erzählen. Sie ist ausgesprochen erfreulich, besonders in der Rückschau. Fast alle Delegierte, die heute da sind, saßen vor drei Jahren schon hier. Damals verströmten der blanke Beton der Wände und die monströsen Lüftungsrohre im Stahlträgergewirr an der Decke marode Schrottplatz-Atmosphäre. Beton und Stahl sind noch da, stören aber jetzt nicht weiter. Auch Symbole sind eine Frage der Stimmung.
Lindner beschwört kurz die Düsternis von 2013 – „Hier haben wir uns eingestanden, dass die Freie Demokratische Partei zeitweise die Orientierung verloren hatte!“ – und die Jahre, als die Partei zwischen dem Nichts und dem Abseits stand: „Wir hätten uns vor dem Brandenburger Tor nackt versammeln können …“
Den Parteitag gruselt es wohlig, aus unterschiedlichen Gründen. Aber der kollektive Striptease hat sich ja nun erübrigt. Ziemlich unauffällig ist die FDP auf einmal wieder da.
Am sinnfälligsten wird das an dem schmächtigen Mann, der am Freitagabend beim Presseempfang im Thomas-Dehler-Haus auf das Podest klettert und nur entfernte Ähnlichkeit hat mit dem gelb-blau-magenta verfremdeten Supermann, den die FDP im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz als ihren Spitzenkandidaten plakatiert hat. Es hat trotzdem geklappt. Volker Wissing kommt quasi direkt aus den Koalitionsverhandlungen in Mainz. Die Ampel, das rot-grün-gelbe Bündnis steht.
Schwarz? Rot? Grün? Alles eine Soße, sagt Lindner
Das ist, genau besehen, ein ziemliches Ding. Die Freidemokraten haben seit Menschengedenken darüber gerauft, ob und mit wem sie in Regierungen gehen sollen und ob ein, zwei Ministerposten es wert sind, den „Umfaller“-Vorwurf zu riskieren. Außerdem – mit Grünen! Aber Wissing stellt bloß lakonisch fest, dass der Wähler sich die Freiheit genommen habe, der Landespolitik ein buntes Ergebnis zu liefern, und die FDP daraufhin die Freiheit, die Verantwortung nicht zu scheuen. Und Lindner steuert die Geschichte von der Mail bei, deren Verfasser sich sehr empört habe über diese Ampel und geschrieben habe, dass er dann nie, nie, niemals mehr FDP wählen werde. „Wir haben den Namen gegoogelt“, sagt Lindner, und siehe da: der Absender sei ein Ratsherr von der CDU gewesen!
Wer die Finanzlage und die Personalausstattung des Dehler-Hauses in etwa kennt, kann nur leise staunen, welchen Nachforschungsaufwand sie da offenbar mit jedem Posteingang treiben. Aber es ist jedenfalls eine schöne Geschichte, und sie transportiert die Botschaft: Wenn es denen von der CDU nicht passt, dass wir nicht mehr nur mit ihnen zusammengehen, dann ist uns das gleich egal!
Ziemlich jedenfalls, theoretisch. Der FDP-Spitze ist schon bewusst, dass die Partei ihre Wiederaufstehung zu guten Teilen enttäuschten CDU-Anhängern verdankt. Auf die „Merkel-CDU“ einzuhauen ist infolgedessen freidemokratisch korrekt, auf die CDU als solche nicht. „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Merkel selber“, ätzt der Baden-Württemberger Michael Theurer vom Podium herab.
Lindner ist da äquidistanter. Er verdammt die SPD-Minister genau so wie die von CDU und CSU, ernennt Sigmar Gabriel zur „Unordnungspolitik auf zwei Beinen“ und spottet über den boulevardtauglich frisch verliebten Justizminister: „Heiko Maas – auch abgelenkt“. Trotzdem nimmt er in seiner Parteitagsrede eine spöttisch gebrochenen Positionsbestimmung vor: „Sicher steht uns die CDU unverändert am nächsten von allen sozialdemokratischen Parteien.“ Nur einen Automatismus, versichert der Parteichef, werde das nicht mehr auslösen. Wenn es bei einer Wahl zu Schwarz-Gelb reichen sollte, dann werde das nicht auch zwingend zu Schwarz-Gelb führen. „Wir lassen uns nie wieder zu einer reinen Funktionspartei machen“, ruft Lindner, „weil wir eine Überzeugungspartei sind!“ Und ohnehin, die Roten und die Grünen und die Schwarzen könne keiner mehr unterscheiden: „Das ist im Prinzip doch eine Soße!“
Überzeugungen haben den Vorteil, dass man sie überall hin mitnehmen kann. Und wenn es wirklich egal sein sollte, welche Farbe die immer gleiche Soße hat, dann wächst die Portabilität der Überzeugungen gleich noch viel mehr. Wissing hat sie jetzt also mal zu Roten und Grünen mitgenommen. Denen habe er aber, versichert der Rheinland-Pfälzer, als Preis einen „Paradigmenwechsel“ abverhandelt. Ein großes Wort. Man wird sehen, was er davon einlösen kann.
In der Berliner Zentrale wünschen sie ihm jedenfalls alles erdenklich Gute dabei. Der Mann spielt in der strategischen Aufstellung der FDP ab jetzt eine Schlüsselrolle. Er muss etwas beweisen: dass es auch mit Roten, das sowieso, aber dass es sogar mit Grünen geht. Offiziell macht sich niemand Gedanken darüber, wie nützlich das 2017 nach der Bundestagswahl noch einmal werden könnte. Halblaut lassen Parteistrategen das Stichwort „Jamaika“ fallen, also Schwarz-Grün- Gelb. Oder, noch lieber, Schwarz-Gelb- Grün.
Mit solchen Gedankenspielen jetzt schon deutlicher nach vorn zu gehen, erschiene freilich verfrüht. Die FDP bleibe auf dem Teppich, versichert Lindner. Einer aus dem Präsidium gibt sogar weiter die Losung „Demut“ aus – bloß nicht auftrumpfen! Bloß keine Erinnerungen wecken an die zappelige, lautsprecherische, an Selbstüberschätzung gescheiterte FDP.
Aber seit diesen Landtagswahlen im März hat sich etwas verändert. Die ersten Wahlerfolge in Bremen und Hamburg haben sie ja selbst noch mit Misstrauen beäugt – konnte das wahr sein, dass ihre Partei mit dazu noch weithin unbekannte Spitzenkandidatinnen wie Lencke Steiner und Katja Suding wiederaufersteht? Die Rückkehr in die Landtage in den Stammländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz polstert das Selbstbewusstsein kräftig auf. Das Selbstbewusstsein erträgt es inzwischen sogar wieder, den glücklosen Ex-Parteichef Philipp Rösler als Gast willkommen zu heißen und sogar geschäftsmäßig knapp zu beklatschen.
Lindner wirkt sowieso sehr entspannt auf der Tribüne. Nächstes Jahr in Nordrhein-Westfalen hat er als Spitzenkandidat immer noch eine wichtige Wahl zu bestehen. Doch sie entscheidet jetzt nicht mehr über Wohl und Wehe der Gesamtpartei. „Im letzten Jahr hatten wir die Trendwende für die FDP noch nicht erreicht“, ruft der Parteichef. „Aber in diesem Jahr haben wir die Trendwende erreicht!“
Lindner traut sich langsam sogar, Ziele zu benennen: Stärker als die AfD werde die Bundespartei, prognostiziert er. Die „Alternative“ kommt bei ihm ansonsten nur knapp vor, als „die Rechtspopulisten“, die mit ihrer Gleichsetzung von Islam und Islamismus den sozialen Zusammenhang gefährdeten. Taktisch betrachtet ist ihm die „Alternative“ aber nicht unrecht. Sie versammelt den Pegida-nahen Protest und erspart der Protestpartei FDP diese Sorte Wutbürger. So kann Lindner sich dezent gegen Merkels Willkommenskultur positionieren. Am Samstag fordert er einen „europäischen Grenzschutz“. Was das sein soll, weiß kein Mensch. Aber es ist manchmal nützlich, wenn man als Partei noch wenig beachtet wird. Das erspart Erklärungen.
Ach ja, richtig, Erklärungen – da war etwas offen. Die Sache mit der Beta-Republik. Der Kubicki hat es also nicht ganz verstanden. Die Erläuterung im Klappentext der Tagungsmappe, die das Dehler-Haus vorsichtshalber den Delegierten mitgibt, wird ihm auch nicht weiter helfen: „Die Beta-Version ist ein Stadium bei der Entwicklung neuer Software, das noch Tests durchläuft.“ Lindner liegt schon näher dran: Die Beta-Republik, das sei eine, in der man auch mal was ausprobiere, das noch nicht hundertprozentig funktioniere.
Aber die ganze Wahrheit ist das auch noch nicht. Vielleicht besser, wenn die meisten Delegierten die nicht kennen. Beta-Software ist eine, für die der Hersteller keine Garantie übernimmt, weil sie noch unfertig ist. Die kann harmlose Fehler enthalten, aber auch richtig ernste Macken. Wenn man Pech hat, dann stürzt sie sogar unvermittelt ab. Als Motto für die Freie Demokratische Partei, Stand 2016, ist das also vielleicht gar nicht mal so falsch.