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Soldaten tragen den Sarg in den ehemaligen Plenarsaal.
© dpa

Staatsakt für Hans-Dietrich Genscher: Das Geheimnis des Genscherismus

Ein Begabter, der alles bedachte, ein brutal ehrlicher dazu. So war er, sagen Weggefährten beim Staatsakt für Hans-Dietrich Genscher.

Es hätte ihm gefallen. Nicht, weil Hans-Dietrich Genscher zu Lebzeiten jemals der prallen Lobeshymnen bedurft hätte, um sich seiner selbst zu vergewissern – nein, dieser Staatsakt im ehemaligen Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn war genau von jener Mischung aus Pathos und Leichtigkeit, leiser Trauer und großem Respekt, Wertschätzung und sanfter Ironie getragen, die auch den Menschen Hans-Dietrich Genscher ausmachte. Der ernsthaft sein konnte wie kaum ein zweiter, wenn es um die Kernfragen seines politischen Lebens ging, und der dennoch von einem Moment zum nächsten mit einem Lächeln die Dramatik des Moments in Befreiung umschlagen lassen konnte.

Es war gerade die Mischung der Redner, deren völlig unterschiedliche Funktionen im öffentlichen Leben, ihre so verschiedene charakterliche Typologie und Form des Ausdrucks, die das Bild eines großen Menschen greifbar und nahbar machte und dabei doch so viel Nachdenklichkeit auslöste. Wenn das Wort Staatsakt in seinem tiefen Sinn nicht nur Pomp und Protokoll umfasst, sondern die Ehrenbezeigung der Nation vor einem ihrer Großen abbilden soll, dann war diese Stunde in Bonn auch eine wahrhaft große Stunde für unser Land.

Der Präsident des Bundestages, Norbert Lammert, der des Bundesrates, im Moment Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich, Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, die Kanzlerin Angela Merkel, die früheren Bundespräsidenten Roman Herzog, Horst Köhler und Christian Wulff, Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder, Rita Süssmuth, Norbert Blüm, viele amtierende Ministerinnen und Minister sowie solche, die in früheren Regierungen mit Hans-Dietrich Genscher zusammen am Kabinettstisch saßen. Alles, was die Politik dieses Landes ausmacht.

Ein Land, an dessen Spitze ein Bundespräsident die Nation präsentiert, der aus seiner eigenen Geschichte heraus Hans-Dietrich Genscher, der den Glauben an die Einheit Deutschlands nie verloren hatte, besser würdigen konnte als seine Vorgänger im Amt. Von denen war ja keiner in der DDR aufgewachsen und in der Distanz zum Regime geprägt worden. Joachim Gauck, der Pfarrer aus Rostock, dessen Vater Jahre seines Lebens in sowjetischer Lagerhaft geraubt worden waren, setzte den Ton zu Beginn seiner Rede so, dass sich alle, die Würdenträger von Staat und Gesellschaft, aber eben auch die Witwe Hans-Dietrich Genschers, Barbara, dessen Tochter und die beiden Enkelinnen in einem Gedanken aufgenommen fühlen konnten – wir alle können uns eigentlich ein Deutschland ohne Hans-Dietrich Genscher gar nicht vorstellen.

Der Außenminister der Einheit

In der Tat war er ja irgendwie schon immer da. Minister von 1969 bis 1992, Außenminister der Einheit – wer den Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, zitiert, wird, ohne seinen Außenminister zu erwähnen, immer nur die halbe Geschichte erzählen. Dann aber auch das Vierteljahrhundert, das seit Genschers Abschied aus dem Auswärtigen Amt vergangen und das irgendwie ein Nichts gewesen ist, denn, selbstverständlich, war Genscher immer da, wenn es um die Einheit ging, um Europa, die atlantischen Beziehungen, die Verbindungen zu Russland, also all jene Themen, zu denen wir ihn hören wollten und zu denen er so eindringlich sprechen konnte wie kaum ein anderer. Joachim Gauck fasste das gleich am Beginn seiner Rede mit einem Satz zusammen, der nicht nur Genscher charakterisierte, sondern eben auch, weil unausgesprochen, zum Nachdenken darüber provozierte, auf wen alle dieser Satz in einem entscheidenden Teil nicht zutreffen würde: „Nicht alle politischen Begabungen haben auch die Disziplin, die Tatkraft und die Demut, all das, was in ihnen angelegt ist, zu verwirklichen. Und nicht alle bewähren sich, wenn die historischen Umstände es von ihnen fordern. Hans-Dietrich Genscher hat seine Gaben genutzt, und er hat sich bewährt, wenn es auf ihn ankam.“

Gauck, zu dessen angenehmen, nur vermeintlichen Schwächen es gehört, dass er seine Rührung gelegentlich weder verbergen kann noch will, macht keinen Hehl daraus, dass er da in Bonn als einer am Rednerpult steht, stellvertretend für 16 Millionen DDR-Bürger, die politischen Visionären wie Genscher ihr heutiges Leben in Freiheit verdanken.

Wie Genscher Gemeinsamkeiten herausstellte

Ein Bild des Verstorbenen steht im Saal.
Ein Bild des Verstorbenen steht im Saal.
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Auch Genschers Nachfolger im Amt des Außenministers, Klaus Kinkel, beschreibt in seiner Rede, was den sogenannten Genscherismus ausmacht. Wo es Gegensätze zu überwinden galt, stellte Genscher zunächst die Gemeinsamkeiten heraus, und Kinkel zitiert dann den jüdischen Philosophen Martin Buber mit dem Satz, grundsätzlich sei davon auszugehen, dass, so lange geredet werde, nicht geschossen wird. John Kornblum, Botschafter der Vereinigten Staaten in Deutschland, hat in anderem Zusammenhang einmal diagnostiziert, Genscher sei ein Machtmensch gewesen, der immer genau wusste, was er wollte – aber keiner habe so perfekt ins Ungefähre ausweichen können und dabei doch nie sein eigentliches Ziel aus dem Auge verloren.

Das Geheimnis des Genscherismus, der letztlich nichts weiter als ein Rezept für eine pragmatische, nicht am Weg, sondern ausschließlich am Ergebnis orientierte Außenpolitik ist, bleibt die Demut – Gauck hat sie ja erwähnt. Es geht am Ende nicht darum, recht zu haben, sondern darum, dass möglichst viele zu ihrem Recht kommen. Oder, wie Genscher das in einem seiner späten Interviews mit einem Redaktionsmitglied dieser Zeitung selbst formulierte: „Es wird uns in Deutschland auf Dauer nicht gut gehen, wenn es unseren Nachbarn auf Dauer schlecht geht.“

Von wegen prinzipienlos

Einer der größten Irrtümer über Hans-Dietrich Genscher ist seine vermeintliche Prinzipienlosigkeit, die sich, auch so eine Gespensterbehauptung, mit einer am Ende linken Grundhaltung paare. James Baker, US-Außenminister von 1989 bis 1992, ein bis zum Schluss enger Freund Genschers und unter Bush senior ein Kämpfer für die deutsche Einheit, hat das in seiner sehr persönlichen Traueransprache erinnert. Baker, 86 Jahre alt und von der Gewissheit geprägt, dass das Leben endlich ist, nennt Genscher gleichzeitig schlau und brutal ehrlich – da kommt in den Sinn, wie Genscher 1990, als ehemalige Kriegsgegner Deutschlands versuchten, die anlaufenden „2 plus 4“-Gespräche durch eigene Mitspracheansprüche auszuhebeln, kalt lächelnd erklärte: „You are not a part of the game.“ Heute schmunzelt Baker darüber, dass Genscher in der Ära Reagan der Argwohn entgegenschlug, er stünde zu weit links. Und er beschreibt die internationale Stimmungslage am Beginn des Jahres 1990 so: „Angesichts der Besorgnis auf englischer, französischer und russischer Seite, dass sich die Geschichte wiederholen könne, haben der damalige Präsident George Bush (der Vater) und ich ihm, Genscher, und Helmut Kohl vertraut.“ Wie prägend gerade Genscher in dieser historischen Phase war, zeigt eine andere von Baker berichtete Anekdote, die den großen Vorzug hat, wahr zu sein. Ursprünglich lautete das Konferenzkonzept: 4 plus 2, also die vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im Dialog mit den beiden deutschen Staaten. Genscher habe ihm, Baker, dazu gesagt: Die Idee ist gut, aber die Reihenfolge ist falsch – 2 plus 4 muss es heißen, nicht umgekehrt, denn es sind die beiden Deutschlands, die entscheiden, wie es mit ihnen weiter geht.

Die Anteilnahme des James Baker

Witwe Barbara Genscher mit Bundespräsident Joachim Gauck.
Witwe Barbara Genscher mit Bundespräsident Joachim Gauck.
© dpa

Ist es nun typisch amerikanische, lebenskluge Distanz zu sich selbst oder einfach persönliche Prägung – keiner drückt an diesem Tage in Bonn seine Anteilnahme so herzlich, so anrührend aus wie James Baker. Nähe auf andere, weniger emphatische Weise, vermittelt der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer, der auch zu erkennen gibt, dass sich Hans-Dietrich Genscher zu Lebzeiten tiefe Gedanken darüber gemacht hat, wie eine Trauerfeier für ihn ablaufen könne.

Schorlemmer, der beim Evangelischen Kirchentag 1983 auf dem Lutherhof in Wittenberg das Motto der DDR-Friedensbewegung in die Tat umsetzen und Schwerter zu Pflugscharen schmieden ließ, ruht erkennbar in sich selbst, als er sagt: „Ich spreche hier auf seine Bitte hin, als Sachsen-Anhalter für den Sachsen-Anhalter“ und nennt Genscher dann den „fröhlichsten Hallenser aller Zeiten“, weil der nach der Wiedervereinigung jeden greifbaren Außenminister der Welt nach Halle einlud und mit ihm voller stolz durch seine Heimatstadt ging. Auch James Baker erzählt das.

Und wie Genscher in Halle dann einem Popstar gleich auf den Straßen umschwärmt wurde, bringt Schorlemmer noch heute zum Schmunzeln über sein eigenes Erstaunen. Ihm ist auch ein schönes Genscherzitat eingefallen. Schön, weil es zeigt, dass der Mann, vor dessen Sarg sich Deutschland verneigte, zwar nicht frei von Selbstbewusstsein – warum denn auch? – war, aber frei von Hochmut: Ich bin, wie ich bin, und kann Ja zu mir sagen. Niemanden überrascht, dass Schorlemmer am Ende seiner Rede noch einmal auf Genschers Sorgen um den Zerfall Europas und die Isolierung Russlands kommt. In der Tat ein Gedanke, der Genscher bis zum Schluss umtrieb.

Der Gedanke, was bleiben würde

Hans-Dietrich Genscher, der in seinem Leben so viel bedachte, damit er nicht unvorbereitet von etwas getroffen wurde, hat sich – ohne Eitelkeiten – auch darüber Gedanken gemacht, was von ihm bleiben würde. Das hatte auch schon einmal sarkastische Züge, etwa, als er einen Journalisten, der ihn zu einem Thema mehrfach interviewte, anrief und kurz und knapp fragte: Recherchieren Sie eigentlich für meinen Nachruf? Über sein Ende nachgedacht hat er, nicht nur, als er Friedrich Schorlemmer bat, bei der Trauerfeier zu reden, sondern auch bei der Auswahl der Musikstücke. Ob er ahnte, dass sie bei einem Staatsakt gespielt werden würden?

Man muss nicht alles wissen, aber diese Musik strahlte eben viel von dem Menschen aus, dessen letzten Weg sie begleitete. Weniger Trauer war dabei als Sehnsucht. Christoph Willibald Glucks „Reigen der seligen Geister“ aus der Oper Orpheus und Eurydike atmete eine untergründige Melancholie, die man bei Genscher so gut kannte, wenn man ihn in seinen letzten Jahren öfter getroffen hat. Edward Elgars Serenade für Streicher in C-Dur brachte, wie Mozarts Sinfonie Nr. 3, jene Leichtigkeit in den großen, lichten Plenarsaal, die den Blick nach Morgen weiten kann. Dass bei Beethovens Ode an die Freude, beim Klang der Europahymne, die tausend Gäste aufstanden und dann gemeinsam die dritte Strophe des Deutschlandliedes sangen – ja, das hätte ihm wohl gefallen. Oder hat. Hans-Dietrich Genscher fühlte sich bereichert durch jenes Gedicht von Dietrich Bonhoeffer, dessen letzte Strophe lautet: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

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