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Deutschland muss mehr tun, um ausländische Fachkräfte zu halten.
© dpa/Patrick Pleul

Hohe Abwanderungsquote in Deutschland: Ohne Integration kann der Arbeitsmarkt nicht funktionieren

Viele Zuwanderer verlassen das Land wieder, dabei würden sie für den Arbeitsmarkt gebraucht. Deutschland muss jene halten, die schon hier sind. Ein Gastbeitrag.

Prof. Enzo Weber ist Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Die Corona-Krise hat die Zuwanderung nach Deutschland jäh unterbrochen. Auch im Inland haben sich hunderttausende Arbeitskräfte zumindest für den Moment vom Arbeitsmarkt zurückgezogen. In der Krise geht es naturgemäß darum, Arbeitsplätze zu retten. Aber auch der Rückgang des Arbeitskräftepotenzials ist kritisch: Denn das wird demografisch bedingt über die 2020er Jahre ohnehin deutlich schrumpfen, mit oder ohne Krise.

Dass beständig mehr Frauen und Ältere am Arbeitsmarkt teilnehmen, vor allem aber die immens hohe Zuwanderung seit 2011, haben die Zahl der Arbeitskräfte in Deutschland bisher jedes Jahr wachsen lassen, teils deutlich.

Wenn die Baby-Boomer-Generation in Rente geht, wird das demografisch bedingte jährliche Minus des Arbeitskräfteangebots für den deutschen Arbeitsmarkt in den 2020er Jahren aber immer größer werden. Ein Migrationssaldo von gut 400.000 Personen pro Jahr wäre nach Ergebnissen des IAB nötig, um das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland konstant zu halten.

Weniger Einzahler, mehr Empfänger im Sozialsystem

Man mag sich streiten, ob das unbedingt nötig ist. Niemand sagt, dass das heutige Niveau das alleinig glücklich machende ist. Schrumpft das Arbeitskräftepotenzial schnell, würde das unsere Wirtschaft aber wohl vor gravierende Probleme stellen.

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Es bliebe kaum bei einer geordneten gleichmäßigen Anpassung. Vielmehr drohen gewachsene Strukturen im Ganzen wegzubrechen, wenn Netzwerke oder lokale Arbeitsmärkte zu sehr ausgedünnt werden. Hinzu kommt, dass sich die Relation von Einzahlern und Empfängern in den sozialen Sicherungssystemen deutlich verschlechtern würde.

In den vergangenen Jahren kamen Sonderfaktoren zusammen

Aber wie lassen sich Migrationssalden von mehreren 100.000 Personen pro Jahr nachhaltig erreichen? In den vergangenen Jahren kamen etliche Sonderfaktoren zusammen: die jahrelange Krise vieler europäischer Länder, die Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen für neuere EU-Länder wie Rumänien und Bulgarien, die Flüchtlingszuwanderung.

Der Arbeitsmarktforscher und Makroökonom Enzo Weber.
Der Arbeitsmarktforscher und Makroökonom Enzo Weber.
© Wolfram Murr/Photofabrik/IAB

Da die Wirkung dieser Faktoren nachlässt, macht die Politik sich Gedanken, wie Zuwanderer gerade aus Drittstaaten noch stärker angezogen werden können, so etwa im Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Bundesregierung.

Zehn Prozent der Ausländer zogen im Schnitt weg

So lobenswert viele der angedachten Schritte auch sind, bleibt ein entscheidender Hebel außen vor: Für Migrationssalden kommt es nicht allein auf die Zuwanderung an. Sollte die Abwanderung deutlich steigen, wäre im Saldo nichts erreicht. Genau das ist aber absehbar: Zuletzt zogen jährlich circa zehn Prozent der hier lebenden Ausländer aus Deutschland fort. Für jene im erwerbsfähigen Alter ist die Quote sogar noch etwas höher. Diese Werte liegen deutlich über denen anderer großer europäischer Länder.

Gibt es nun hohe jährliche Migrationssalden, nimmt die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer über die Zeit zu. Wenn die Abwanderungsquote von zehn Prozent aller Ausländer in Deutschland konstant bleibt, steigen somit unweigerlich die Fortzüge. Will man einen bestimmten Migrationssaldo halten, braucht man im folgenden Jahr also noch mehr Zuzüge, um die gestiegenen Fortzüge zu kompensieren.

Das schraubt sich immer weiter hoch: Um einen Migrationssaldo von 400.000 Personen pro Jahr längerfristig sicherzustellen, bräuchte man bei gängigen Einbürgerungsquoten eine jährliche Zuwanderung von über drei Millionen!

Die Anerkennung von Abschlüssen ist ein wichtiges Thema

Eine solche Zahl ist selbstredend weder erreichbar noch wäre sie gesellschaftlich verkraftbar. So wichtig Zuwanderung auch ist, zeigt das: Will man den demografischen Wandel substanziell durch Migration abmildern, führt kein Weg daran vorbei, die Abwanderungsquoten zu verringern. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass die Zuwanderer im Durchschnitt länger in Deutschland bleiben müssten. Der Weg führt also über Integration.

Sprachkurse sind wichtiger Teil der Integration.
Sprachkurse sind wichtiger Teil der Integration.
© dpa/Franziska Kaufmann

Möglichkeiten gibt es dabei viele. Die Anerkennung von Abschlüssen wird auch im Fachkräftezuwanderungsgesetz nicht entscheidend genug thematisiert. Nicht nur für Neuzuwanderer, sondern gerade auch für bereits hier lebende Migranten, von denen viele unterhalb ihrer eigentlichen Qualifikation arbeiten beziehungsweise entlohnt werden, muss sich hier etwas tun.

Gezielte Qualifikationen müssen integraler Bestandteil eines Verfahrens sein. Zur Anerkennung noch fehlende Kompetenzen sollten berufsbegleitend ergänzt und im deutschen System nutzbar gemacht werden können.

Ein garantiertes Bleiberecht nach der Ausbildung könnte helfen

Im Rahmen der generellen Weiterbildungspolitik muss Sorge getragen werden, dass Qualifikationen von Menschen, die aufgrund eines aktuell hohen Bedarfs ins Land gekommen sind, nicht im Zuge des technologischen und strukturellen Wandels veralten. Die Brisanz war schon im Falle der „Gastarbeiter“ im Strukturwandel nach dem Wirtschaftswunder zu beobachten, und auch jetzt steht ein starker Wandel des Arbeitsmarkts bevor. Ein langfristig angelegtes Programm attraktiver berufs- bzw. familienbegleitender Sprachschulungen wäre ein weiterer Baustein.

Auch ein garantiertes Bleiberecht nach der Ausbildung und ein intensiveres Werben um ausländische Absolventen von deutschen Hochschulen können Mittel sein. Ein Recht auf Vollzeitkinderbetreuung von der Krippe bis zur Grundschule kann viel bewirken, um zu vermeiden, dass gerade viele ausländische Frauen vom Arbeitsmarkt und deren Kinder von der Gemeinschaft ausgeschlossen bleiben.

All dies würde dazu beitragen, den stärksten Hebel gegen ein schrumpfendes Arbeitskräftepotenzial in Bewegung zu setzen. Das wird nicht trotz, sondern erst recht wegen der Corona-Krise nötig sein. Migrationspolitik wird bei der Integration gewonnen – oder eben verloren.

Enzo Weber

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