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Es wurde spät in der Nacht zu Dienstag, mal wieder. Hoffentlich ist es nicht bald zu spät, die aktuelle Empörung wieder einzufangen.
© Michael Kappeler/dpa/Pool/dpa

Oster-Lockdown sorgt für Aufruhr: Nur Kanzlerin Merkel kann die Wutwelle jetzt noch stoppen

Die größte Zumutung der deutschen Anti-Corona-Politik besteht darin, sie aushalten zu müssen. Nichts klappt. Angela Merkel muss sich erklären. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Mehr Empörung war nie. Von links bis rechts, liberal bis dirigistisch sind Herzen vor Wut in Wallung geraten, seitdem die Ergebnisse der Runde der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel bekannt sind. Die Vorwürfe reichen von halbherzig bis anmaßend, zu lax bis zu hart, zu spät bis zu unnütz.

Da ist ein Ministerpräsident, der aus den Verhandlungen heraus einen Großbuchstaben in langer Reihe twittert, ein Gesundheitsminister, der einen Schokoriegel im Mund hat, eine Bundeskanzlerin, die betonen muss: „Ich persönlich gehöre ja nicht zu den Mallorca-Fahrern.“ Man fasst es nicht und glaubt es kaum. Die an Absurditäten ohnehin nicht arme deutsche Anti-Corona-Politik liefert täglich neue Possen.

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Nun herrscht Leere in einigen Impfzentren, weil die Skepsis gegenüber dem Astrazeneca-Impfstoff groß wurde. Nun ist jetzt schon absehbar, dass in Lebensmittelläden am Karsamstag das Einkaufschaos herrschen wird. Nun dämmert es auch den letzten Gläubigen, dass die Corona-Warn-App ein riesiger Flop war.

Nun ist unklar, ob Oster-Gottesdienste in Präsenz stattfinden dürfen, weil ja nur die Bitte an die Religionsgemeinschaften ergangen ist, dass sie es nicht tun sollen. Nun hat sich abermals die Verwirrung gesteigert, wer wann und wo einen kostenlosen Schnelltest machen kann.

Der Föderalismus erweist sich als Hemmnis

Nichts klappt, gar nichts! Erbarmungslos hat die Krise viele Schwachstellen unseres politischen Systems offengelegt. Starke Nationalstaaten wie die USA, Großbritannien und Israel haben sich früh und in ausreichender Menge Impfstoffe gesichert. Deutschland legte diese existenzielle Aufgabe in die Hände Brüssels – das Ergebnis ist bekannt.

Wäre die EU eine funktionierende Demokratie müssten die Vorgänge, die zu der Blamage geführt haben, gründlich untersucht werden und personelle Konsequenzen haben.

Und sonst? Der ausgeprägte Föderalismus erweist sich in der Pandemie als Hemmnis. Im digitalen Bereich hinkt das Land den Minimalstandards einer modernen Industrienation erschreckend weit hinterher. Machtworte sind nach 16 Jahren Merkel-Regierung unüblich geworden.

[Mehr zum Thema: Berliner Forscher prognostizieren massive dritte Corona-Welle]

Dass Abgeordnete sich durch Maskendeals persönlich bereichern, wäre in normalen Zeiten ein Skandal, dessen Beben bis hin zu vorgezogenen Neuwahlen führen könnten. Stattdessen liegt eine dicke, fast undurchdringliche Schicht Mehltau über der großen Koalition.

Doch wohin mit der Wut?

Die Versuchung liegt nahe, sie in irgendeiner Form auszuleben. In der griechischen Affektenlehre gilt der Zorn als eine „Leidenschaft der Seele“. Der Mensch reagiert mit seinem Verhalten auf eine Kränkung, heißt es bei Aristoteles im 2. Buch der Rhetorik. Der Zornige zielt auf Rache oder Strafe. Im Unterschied zur Furcht oder Hoffnung treibt der Zorn den Menschen zur Aktivität. Unterdrückter Zorn kann auf lange Sicht einen Wutstau bewirken, der sich dann eruptiv entlädt.

Die Kanzlerin als Empörungs-Blitzableiter

Die größte Zumutung der deutschen Anti-Corona-Politik besteht folglich darin, sie aushalten zu müssen. Der Weg in die Rebellion oder Ignoranz ist vernünftigen Bürgern versperrt. Die „Querdenker“ sind ein abschreckendes Beispiel.

Sich den Auflagen zu verweigern, wäre eine unverantwortbare Trotzreaktion. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahmen selbst sowie in die Notwendigkeit, dass die Gesellschaft diese Maßnahmen gemeinsam befolgt, verbietet den Aufstand.

Das aber heißt, dass sich die Wut langsam auch in ohnmächtige Wut verwandelt, was die Sache nicht besser macht. Denn das Gefühl ohnmächtiger Wut, wenn es Massen ergreift, ist gefährlich. Ihr entgegenwirken lässt sich nur im öffentlichen Gespräch. Durch erklären, begründen, analysieren und womöglich durch Gesten der Reue.

Es gibt nur einen Menschen, auf dem die Verantwortung dafür liegt – Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie muss sich kritischen Fragen stellen, ihre Funktion als Empörungs-Blitzableiter zur besten Sendezeit wahrnehmen. Wer sonst? Dem Bundespräsidenten fehlt es an Macht, die Ministerpräsidenten sprechen mit 16 Zungen.

Nein, Merkel muss sich stellen. Sie muss versuchen, den Eindruck des kollektiven Wahnsinns durch kühle Sachlichkeit, verständlich vorgetragen, zu entkräften. Vielleicht ist es das Letzte und Wichtigste, was sie in ihrem Amt den Menschen in diesem Land schuldet.

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