Angreifer auf Journalisten identifiziert: „Querdenker“ streckte Fotografen mit gezieltem Faustschlag nieder
In Kassel attackieren „Querdenker“ zahlreiche Pressevertreter. Die ersten Täter sind jetzt namentlich bekannt. Ihre Hintergründe sind unterschiedlich.
Der Mann, der sich dem Kamerateam des Hessischen Rundfunks von hinten nähert, ist kein schwarz vermummter Hooligan. Vielmehr sieht er aus wie ein Durchschnittsdeutscher beim Wanderurlaub in irgendeinem Mittelgebirge. Gelbe Regenjacke, blaue Mütze, buntes Tuch und auf dem Rücken ein Rucksack.
Urplötzlich taucht er aus der Menschenmasse auf dem Kasseler Friedrichplatz auf, um offenbar gezielt auf den Kameramann des Hessischen Rundfunks loszugehen. Dieser wird vom Angreifer in der gelben Regenjacke geschubst, fast fällt die teure Fernseh-Kamera von der Schulter.
Ein paar Sekunden später ist der Täter wieder in der “Querdenken”-Menschenmenge auf dem Kasseler Friedrichsplatz verschwunden. Umstehende rufen “Lügenpresse”. Die Szene wird von einem freien Journalisten gefilmt und später auf Twitter geteilt.
Es ist bei weitem nicht der einzige Angriff auf Pressevertreter an diesem Tag, an dem erneut ein Protest gegen die von der Politik erlassenen Corona-Maßnahmen eskaliert. Fernsehteams großer Sender gehen grundsätzlich nur noch mit Security auf Demonstrationen der “Querdenken”-Bewegung. Auch der HR hatte einen Sicherheitsbeamten engagiert. Der Angreifer ließ sich offenbar nicht mal davon beeindrucken.
Jörg Reichel von der Deutschen Journalistinnen – und Journalisten-Union Berlin-Brandenburg sammelt und katalogisiert seit Beginn der Corona-Proteste im April 2020 bundesweite Übergriffe und Anfeindungen auf Pressevertreter. Er ist darauf angewiesen, dass sich die Opfer der Attacken selbst bei ihm melden.
Laut Reichel habe es am vergangenen Sonnabend in Kassel insgesamt 17 Übergriffe auf Journalisten und Journalistinnen gegeben, drei davon aus Reihen der Polizei. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, sagt Reichel. Darunter teilweise brutale körperliche Gewalt gegen Fotografen oder freie Journalisten, die nicht die Möglichkeit besitzen mit einem Security-Team auf die regelmäßig eskalierenden Proteste, um Relativierer und Leugner der Pandemie zu gehen.
Dem Tagesspiegel ist es gelungen in zwei Fällen Täter zu identifizieren. So heterogen die Bewegung aus Esoterikern, rechten Kräften, Verschwörungstheoretikern und augenscheinlich bürgerlichen Personen ist, so unterschiedlich sind auch die beiden Täter.
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Als sich gegen 11:45 Uhr am Sonnabend das erste Mal an diesem Tag herauskristallisiert, dass tausende “Querdenker” gar nicht daran denken, sich an die vom hessischen Verwaltungsgerichtshof erlassenen Demo-Auflagen zu halten, ist der freie Fotograf Felix Dressler ganz vorne mit dabei. Relativ plötzlich setzt sich ein eigentlich verbotener Demonstrationszug aus tausenden Teilnehmern Richtung Nordosten zusammen. Angeführt wird der Aufmarsch von Michael Schele aus Wetter/Ruhr und Tim Marc aus Heinsberg. Beides bekannte Gesichter in der “Querdenken”-Szene Nordrhein-Westfalens. Schele ruft immer wieder über sein Megafon: “Alle anschließen, keine Abstände einhalten”.
Nach etwa 250 Metern stellen sich auf Höhe der Kasseler Du-Ry-Straße rund zehn Gegendemonstranten dem illegalen Aufzug mit einem Transparent in den Weg. Die Situation eskaliert als einige “Querdenker” an der Spitze des Aufzuges versuchen, den Gegendemonstranten das Transparent zu klauen. Ein Mann mit Kamerastativ in der Hand und Rucksack auf dem Rücken tritt mehrmals auf die Gegendemonstranten ein.
Gesichtsprellung und ein Schleudertrauma
Felix Dressler steht daneben und fotografiert. Auch diese Szene ist in einem Video festgehalten. Plötzlich wird der tretende “Querdenker” auf Dressler aufmerksam, realisiert offenbar, dass seine Attacken dokumentiert worden sind. Blitzschnell geht er auf den Fotografen los und streckt ihn mit einem gezielten Faustschlag ins Gesicht nieder.
Dressler geht sofort zu Boden, hat ein Blackout. Das nächste, woran er sich erinnern kann? Er liegt vor einer Hecke auf dem Boden, mehrere Journalisten-Kollegen versorgen ihn. So erzählt er es dem Tagesspiegel. In der Notaufnahme stellen die Ärzte eine Gesichtsprellung und ein Schleudertrauma fest. Auch am Montag hat Dressler noch Schmerzen am Unterkiefer.
Der Angreifer zieht sich kurz nach der Attacke um. Auf einmal hat er keine Jacke mehr an und trägt stattdessen eine Mütze. Dennoch konnte der Tagesspiegel den Schläger identifizieren. Es ist Marco Kurz, Gründer des rechten „Frauenbündnisses Kandel“, welches sich nach dem Mord eines afghanischen Geflüchteten an einer 15-jährigen Deutschen gründete.
Kurz ist ein bekanntes Gesicht in der rechten Szene Süddeutschlands. Überregionale Schlagzeilen machte er, als eine Richterin in Anspielung auf den Mord an Walther Lübcke eine Nachricht mit dem Satz “Man sieht sich auf der Terrasse” von Kurz erhielt.
Auf seinem eigenen Telegram-Kanal gibt der rechte Aktivist seine brutale Attacke auf Dressler sogar ganz unverblümt zu. Unter dem geteilten Video des Übergriffs schreibt er: „Links dann zu sehen wie eine Frau attackiert wird und der Antifant (angeblich freier Pressefotograf) von mir gestoppt wird.“ Im Video ist keine Frau zu erkennen, die attackiert wird. Auch Dressler weiß nicht, von welcher angeblichen Frau Kurz spricht.
Auch ein freier Journalist aus Würzburg wird Opfer mehrerer Attacken. Bereits am Nachmittag schlug ein „Querdenker“ ihm mit voller Kraft auf sein Kameraobjektiv, wie er dem Tagesspiegel erzählt. Später am Abend will er gerade mit Kollegen auf dem zentralen Friedrichsplatz dokumentieren, wie hunderte Demonstranten ohne Abstand und Masken zu Techno tanzen, als er von hinten angegriffen und auf den Boden geworfen wird.
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In einem Video der Situation sieht man wie der Fotograf aus Würzburg links durch das Bild auf den Boden fliegt. Der Angreifer geht auf sein Opfer am Boden los, als er von anderen Journalisten weggezogen wird. Im Krankenhaus stellt ein Arzt Blutergüsse, Weichteilschwellungen, geschwollene Ellenbogen und ein geschwollenes Knie fest.
Auch in diesem Fall konnte der Tagesspiegel den Täter identifizieren. Es handelt sich um Stefan K. aus Würzburg, der den Journalisten aus seiner Heimatstadt offenbar wiedererkannte. K. ist Betreiber eines Online-Bio-Shops und bietet zu pandemiefreien Zeiten Kochkurse an. Anders als der rechte Aktivist Marco Kurz aus Rheinland-Pfalz ist K. vor der Corona-Pandemie nicht politisch aufgefallen. In Würzburg demonstriert er regelmäßig mit der “Querdenken”-nahen Organisation “Unternehmer stehen auf”. Auf eine Anfrage des Tagesspiegels reagierte K. nicht.
"Radikale Demonstranten sehen in Journalisten die Büttel des verhassten Systems"
Für den Bundesvorsitzenden des Deutschen Journalisten-Verbandes Frank Überall sind die Kasseler Übergriffe alarmierend: “Radikale Demonstranten sehen in Journalisten die Büttel des verhassten Systems und halten es deshalb offenbar für völlig in Ordnung, zuschlagen zu dürfen”, sagte er dem Tagesspiegel. Vor allem die Polizei sieht Überall in der Pflicht, dem Problem der stetig wachsenden Anzahl von Angriffen auf Pressevertreter Herr zu werden. Trotz mehrfacher Aufrufe und Appelle sei sie laut Überall noch nicht auf die neue Lage eingestellt.
“Mal sind zu wenige Beamte im Einsatz, mal ist es ihnen scheinbar egal, wenn Journalisten angegriffen werden”, so der DJV-Vorsitzende. Gleichzeitig beobachtet der Verband eine stetig steigende Aggressivität bei gleichzeitig sinkender Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden.
Schon seit Monaten drängt der Journalisten-Verband deswegen auf Kooperationsgespräche mit Politik und Polizei. In Sachsen würde das beispielsweise funktionieren, erzählt Überall, bei vielen Innenministern und Polizeiführern sei das Interesse hingegen nicht “besonders groß”. Vor allem der für die Bundespolizei zuständige Bundesinnenminister Horst Seehofer hätte mehrere Gesprächsangebote ins Leere laufen lassen. Er “gebärdet sich wie ein Betonkopf” kritisiert der Bundesvorsitzender des DJV. Eine Anfrage des Tagesspiegels beim Bundesministerium des Inneren bliebt unbeantwortet.
Wie wenig die Polizei auf Großversammlungslagen von “Querdenken” und den damit zusammenhängenden erwartbaren Übergriffen auf Pressevertreter vorbereitet ist, zeigt ein weiteres Beispiel aus Kassel. So weigerte sich die Pressestelle der zuständigen Polizei Nordhessen im Vorfeld zunächst eine Mobilnummer ihres Medienteams herauszugeben, welches während des gesamten Tages im Stadtgebiet Kassels unterwegs war. In anderen Städten wie Berlin oder Leipzig ist das längst Standard, damit berichtende Journalisten vor Ort schnell Informationen erhalten oder Übergriffe melden können.
In Kassel verwies man auf eine einzige offizielle Nummer der Pressestelle. Erst nach langem Zögern erklärte sich die Behörde doch noch bereit, die Mobilfunknummer ihres Medienteams den Berichterstattern vor Ort zur Verfügung zu stellen. Die Festnetznummer der Pressestelle hingegen war am Sonnabend immer wieder besetzt. Denn Redaktionen aus ganz Deutschland riefen bei der Polizei an. Sie wollten wissen: Was war da los auf der Demo?
Korrektur: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass es mindestens 17 Übergriffe auf Pressevertreter gegeben habe, acht davon von der Polizei ausgehend. Das ist nicht richtig. Es waren insgesamt 17 Übergriffe und drei davon von der Polizei ausgehend. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
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