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Das Mahnmal für die in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen im Berliner Tiergarten.
© Kai-Uwe Heinrich

Gedenken an marginalisierte NS-Opfer: „Nie wieder“ – auch für Homosexuelle

75 Jahre Befreiung von Auschwitz: Homosexuelle NS-Opfer warten vielerorts auf Rehabilitation und Gleichstellung. Ein Gastbeitrag.

In der polnischen Stadt Białystok wagten sich am 20. Juli 2019 erstmals rund tausend überwiegend junge Menschen auf die Straße, um für ihre Rechte als sexuelle Minderheiten zu demonstrieren. Ihnen standen mehrere Tausend wütender Bürger*innen gegenüber, längst nicht nur Rechtsextreme, die wenig später zum gewalttätigen Angriff übergingen.

Die Polizei schien völlig überfordert. Im Internet sind bis heute schreckliche Szenen zu sehen, in denen Männer mit Stiefeln auf junge Frauen, die am Boden liegen, eintreten.

Der katholische Erzbischof Jędraszewski verurteilte daraufhin nicht die Gewalttäter, sondern beschimpfte die jungen Demonstranten als eine „Regenbogen-Seuche“.

Bis Anfang 2020 erklärten sich landesweit mehr als 30 Gemeinderäte zu „LGTB-freien Zonen“, was von einer großen Zeitung mit kostenlosen Aufklebern in ganz Polen unterstützt wird. Assoziationen zu dem, was die Nazis damals mit „judenfreien Städten“ praktizierten, schienen niemand zu stören.

„LGBT-freie Zonen“ im heutigen Polen

Gleichwohl hat sich auch für die Gruppe sexueller Minderheiten einiges getan, wenn es auch zu oft unterzugehen droht im lauten Geheul rechtspopulistischer Propaganda. Mariusz Kurc, Chefredakteur von „Replika“, der einzigen LBGTIQ-Zeitung für ganz Polen, wies vor Kurzem darauf hin, dass „trotz aller homophoben Attacken 2019 Polen regenbogenfarbig war wie nie zuvor“.

Durch das Land seien 28 Gleichheitsmärsche gezogen, in Warschau seien es rund 80.000 Teilnehmer gewesen. Kurc hob auch die Gründung der Frühling-Partei im Februar 2019 hervor, deren Vorsitzender der offen schwule (ehemalige Bürgermeister von Słupsk) Robert Biedroń ist. Tatsächlich konnte die Partei nach der Oktoberwahl 2019 immerhin 19 Abgeordnete ins Parlament entsenden.

In Auschwitz gibt es keine Erinnerung an die Opfergruppe der Homosexuellen

Der Kampf für Meinungsfreiheit in vielen lange unangefochtenen Einrichtungen ist jedoch noch lange nicht ausgestanden. Weil er nicht ausreichend die offizielle Regierungsmeinung vertritt, darf der Direktor des Warschauer POLIN Museums für die Geschichte der Juden, Dariusz Stola, seit mehreren Monaten sein Büro nicht betreten, obwohl die Mehrheit der 160 Mitarbeiter*innen deutlich hinter ihm steht.

Bis heute gibt es in der Gedenkstätte Auschwitz keine für Besucher sichtbare Erinnerung an die Opfergruppe der Homosexuellen. 75 Jahre Befreiung von Auschwitz bedeutet nicht auch Befreiung und Anerkennung aller, die damals leiden mussten.

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So dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis die Gruppe der Roma und Sinti endlich, vor allem aufgrund eigenen Engagements, eine Ausstellung in einer ehemaligen Baracke einrichten konnte und heute der 2. August 1944 international als Roma Genocide Remembrance Day anerkannt ist.

Seit Längerem gibt es Bemühungen, sowohl in Auschwitz als auch in der jährlichen Gedenkstunde zum 27. Januar im Bundestag an das Unrecht, das sexuelle Minderheiten in der NS-Zeit erlitten, zu erinnern.

Eine Petition an Wolfgang Schäuble

Die Petition an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, um am 27. Januar 2021 im Bundestag die Leiden homosexueller Frauen und Männer in der NS-Zeit zu thematisieren, geht inzwischen ins dritte Jahr, wobei die Zahl prominenter Unterstützer*innen weiter zunimmt.

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Neben den Vorsitzenden des DGB und mehrerer Einzelgewerkschaften haben erstmals auch Vertreter*innen beider christlicher Kirchen wie Ansgar Wucherpfennig (Rektor der Katholischen Hochschule St. Georgen) und der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau, Volker Jung, unterschrieben.

Esther Bejarano, Überlebende des KZ Auschwitz-Birkenau und Ehrenpräsidentin des Auschwitz-Komitees der Bundesrepublik Deutschland, ist eine derjenigen, die fordert, homosexueller NS-Opfer müsse sowohl in Auschwitz als auch im Bundestag gedacht werden.
Esther Bejarano, Überlebende des KZ Auschwitz-Birkenau und Ehrenpräsidentin des Auschwitz-Komitees der Bundesrepublik Deutschland, ist eine derjenigen, die fordert, homosexueller NS-Opfer müsse sowohl in Auschwitz als auch im Bundestag gedacht werden.
© Axel Heimken/dpa

Unabhängig davon, ob es noch gelingen wird, die letzte Gedenkstunde in der Amtszeit von Wolfgang Schäuble 2021 thematisch in Erinnerung an homosexuelle Opfer zu gestalten, hat sich aus dem Unterstützer*innenkreis der Petition eine bislang einmalige polnisch-deutsche Initiative gebildet, um anerkannte Historiker*innen aus beiden Ländern zum Thema homosexueller Häftlinge (Frauen und Männer) in Auschwitz zusammenzubringen: Das Buch „Erinnern in Auschwitz – auch an homosexuelle Häftlinge“ wird rechtzeitig vor dem 27. Januar 2021 sowohl in Deutschland (im Querverlag Berlin) als dann auch in Polen erscheinen.

[Der Autor ist deutsch-niederländischer Historiker und führte 2017 eine erste Fortbildung für Guides in Auschwitz über Häftlinge mit dem rosa Winkel durch. Er gehört zu den Initiatoren der Petition an Wolfgang Schäuble.]

Bedeutsam hierbei ist fraglos, dass es inzwischen auch Auschwitz-Überlebende gibt, die sich zur Opfergruppe sexueller Minderheiten äußern, ohne selbst „betroffen“ zu sein.

Im Geleitwort zum Buch schreibt die Ehrenpräsidentin des Auschwitz-Komitees der Bundesrepublik Deutschland, Esther Bejarano, Jahrgang 1924: „Es waren die Nazis, die Menschen in ,unterschiedlich wertvolle’ Kinder, Frauen und Männer klassifizierten. Das ist nirgendwo auf der Welt akzeptabel! Nach der Befreiung 1945 riefen wir Überlebenden alle ,Nie wieder!’.

„Unsere Mitgefangenen mit dem rosa Winkel wurden weiterverfolgt“

Für unsere Mitgefangenen mit dem rosa Winkel galt das aber nicht: Sie wurden in den meisten Ländern, auch in Deutschland, weiterverfolgt. In Deutschland ist das zwar endlich vorbei. Aber ein aufrichtiges und umfassendes Erinnern an die homosexuellen Frauen und Männer, die damals litten, fehlt noch immer und ist dringend nötig – sowohl im Bundestag am 27. Januar als auch in der Gedenkstätte Auschwitz.“

Der polnische Auschwitz-Überlebende Marian Turski, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Jahrgang 1926, ergänzt in seiner Einführung: „Ich schäme mich, dass in meinem Land Menschen, die die geistige Führung beanspruchen, (...) Anti-LGBT-Argumente verwenden, um das konservative Denken zu erhalten. Früher oder später werden sie sich als diejenigen ihrer Vorgänger wiederfinden, die die Lehren von Kopernikus und Galilei zu verbergen suchten. Früher oder später – für die Geschichte hat das keine größere Bedeutung. Aber für die Menschen, die vom Bann betroffen sind, bedeutet s p ä t e r die Verlängerung ihres Schmerzes, ... ein während ihres Lebens nicht endender Prozess, sie der Menschenwürde zu berauben.“

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