Politik: In der Fremde zu Hause
Von Turin nach Hessen: Eine Italienerin erzählt
Ich bin eine Italienerin, die seit fast 50 Jahren in Deutschland lebt: eine irdische Ewigkeit, eine Jubiläumszahl, knapp so alt wie der deutsch-italienische Anwerbevertrag von 1955. Eine Italienerin, die wie tausend andere Ende der 50er Jahre nach Deutschland kam und seitdem alle Dinge des täglichen Lebens in Deutschland tat:: Kinder geboren, in die Schule geschickt, einen Haushalt geführt.
Doch ist meine Emigration nie eine klassische gewesen, wie die von Menschen die emigrieren wollten oder mussten, die in Fabriken gingen und Gastarbeiter wurden. Ich kam als Ehefrau eines Mannes, der von einer italienischen Firma nach Deutschland in eine führende Position geschickt wurde, und habe nie materielle Sorgen und Diskriminierung gekannt. Unser Leben in Deutschland begann in Allendorf in Oberhessen. Ein Ort, weder Dorf noch Stadt, ein Sammelbecken für Heimatvertriebene in einer waldreichen, dünn besiedelten Gegend. Kein Ort, der es leicht machte, Deutschland kennen und lieben zu lernen.
Die Firma wuchs, wir kannten nie Unsicherheit. Unser Aufenthalt in Deutschland war von vornherein überschaubar und langfristig geplant. Wenn auch „privilegiert“, lehrten mich die Jahre, wie reich an Entbehrungen auch ein abgesichertes Leben sein kann. Meine Identität war eine urbane, da ich auf einem städtischen Marktplatz, im dichtesten Baugestrüpp der Altstadt geboren und aufgewachsen bin. Ich hatte die starke Identität, die eine alteingesessenen Familie gibt. Als ich heiratete, hatte ich gerade mein Studium in Turin abgeschlossen. Das Modell, das ich in Allendorf vorfand, stand im krassen Gegensatz: Kleine, weit auseinander gelegene Siedlungen am Waldesrand, kein Stadtbild, keine alteingesessenen Menschen. Nur Bäume hatten in Allendorf Wurzeln, ein Ort für Pioniere und Handwerker. Dort fand ich, sehr bald Mutter von drei Kindern, keine akademische Zukunft. Aus nächster Nähe erlebte ich das Nachkriegsschicksal der Deutschen, die Vertreibung, von der ich vorher nicht mal wusste. Allendorf war überplakatiert mit längeren Überschriften wie: Unbefugten Zutritt strengstens verboten. Es waren die alten verrosteten, immer noch an den gesprengten Eingängen der Munitionsfabriken der Kriegszeit hängenden Schilder. Mit der Zeit habe ich diese schwer aussprechbaren Worte als Metapher des Fremdseins, des Ausländers gedeutet: der für lange Zeit ein Unbefugter ist, einer, der sich nicht auskennt, also der nicht dazugehört.
Es war schwer, das Grundmodell, das mir geboten wurde, zu azeptieren. Meine Rolle als passive Begleiterin einer aktiven Emigration – die meines Mannes – als Ehefrau, Mutter und Hausfrau, bescherte mir keine festen arbeitssoziale Einbindungen. Kein Status, keine Kategorie passte zu mir. Aus dieser speziellen geografischen, historischen und sozialen Position ist in mir eine genauso spezielle Wahrnehmung Deutschlands und ein entsprechend starkes Fremdheitsgefühl entstanden. Durch die Schwierigkeiten wurde mir die Fremde zum absoluten Begriff einer existenziellen Not und das lebt heute noch unbewusst in einem immer noch nicht zur Ruhe gekommenen Verhältnis zu diesem Land weiter.
Die Zeit hat für Deutschland gearbeitet. Die Kinder haben mir Deutschland ins Haus gebracht. Ihre ersten Freunde, die ersten Lieben, waren deutsch. Auch wenn meine Identität unantastbar italienisch blieb, erreichte meine deutsche Zugehörigkeit ihren Höhepunkt. Nie bin ich so deutsch gewesen wie in jenen Jahren, als ich mich mit den Problemen meiner Kinder auseinander setzen musste.
Die Kinder sind längst aus dem Haus. Meine Fremde von heute ist nur noch ein blasses Echo von damals und kann sich auch nicht mehr an heutigen „Fremden“ messen, die Exil, Flucht, Vertreibung, Asyl erlebt haben. Objektiv ist sie eine normale heutige Geschichte. Subjektiv aber ist es noch anders. Emigration ist ein Massenphänomen, erlebt wird sie aber individuell. Meine Fremde ist eine seit langem befriedete Landschaft geworden, tolerant, respektvoll, den hiesigen Interessen und Gewohnheiten angepasst. Heute bereite ich mich darauf vor, hier alt zu werden, zwar angepasst, getarnt, aufgenommen, etabliert und doch mit einem genetischen Etwas in der Seele und im Leib, das auch nach so langer Zeit immer noch hervortritt. Eine Generation reicht nicht, um aus einer Italienerin eine Deutsche zu machen. Ich werde die unermüdliche Fähre zwischen Deutschland und Italien bleiben, die ich seit Jahrzehnten bin, und die eines Tages an deutschem Ufer vor Anker gehen wird.
Seit wenigen Jahren habe ich durch die Kinder Eintritt in deutsche Familien gefunden. Der letzte entscheidende Schritt in das neue Land. Meine Enkel sprechen Deutsch, die Sprache, die ich mit großer Begeisterung gelernt habe, die Sprache, die mir Heimat wurde, die ich seit fast fünf Jahrzehnten in guten und schlechten Tagen spreche. Aber sie ist nicht die Sprache, die ich mit meinen Enkelkindern sprechen möchte. Niemals stand mir die deutsche Sprache so im Wege wie jetzt, im Umgang mit meinen Enkeln. Sie nennen mich „Nonna“, um mich von der Oma mütterlicherseits zu unterscheiden, aber das ist schon alles. Als ich mich am Telefon mit „Ciao“, verabschieden wollte, antwortete mein dreijähriger Enkel: „Nicht ciao. Tschüss!“ – und legte auf.
Marisa Fenoglio ist Schriftstellerin und lebt heute in Marburg. Ihre Zeit in Deutschland beschrieb sie in „Vivere altrove“, das bisher nur auf italienisch erschienen ist.
Marisa Fenoglio
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