Gefangenentausch in Israel: Netanjahus Befreiungsschlag
Er ist über seinen Schatten gesprungen. Mit dem ausgehandelten Gefangenenaustausch hat Benjamin Netanjahu etwas von dem zurückgewonnen, was ihm am meisten fehlt: Glaubwürdigkeit.
Er ist stockkonservativ und hochintelligent, rhetorisch brillant, ein Meister des Dialogs, Medienprofi durch und durch, außerdem nationalistisch und opportunistisch mit besten Kontakten zur Hochfinanz, ein neoliberaler Ultra-Kapitalist und Populist, kaltblütig charmant und menschenverachtend. Er wurde an den besten Hochschulen der USA ausgebildet und ist deren traditionellen Werten verpflichtet.
Er ist groß, bullig, sieht nicht schlecht aus und trägt gern maßgeschneiderte Anzüge. Hätte er die amerikanische Staatsbürgerschaft, wäre er der ideale Präsidentschaftskandidat der Republikaner – und vielleicht nach den US-Wahlen 2012 der mächtigste Mann der Welt. Doch die hat er nicht. Benjamin Netanjahu, 62, wurde in Israel geboren, hat es deshalb quasi nur zum israelischen Regierungschef gebracht – und die Welt ist in zunehmendem Maße gegen ihn.
Da sollte es ihm mehr als recht gewesen sein, dass er in der Nacht zum Mittwoch die erfolgreichen Verhandlungen um Gilad Schalit, den von Palästinensern verschleppten israelischen Soldaten, verkünden konnte. Und auch dabei verstand er es, den Deal als persönliche menschliche Geste seinerseits zu verkaufen und sich dabei selbst in strahlendes Licht zu stellen.
Vor laufenden Kameras und offenen Mikrofonen erinnerte Benjamin Netanjahu die überglücklichen Eltern Schalit daran, dass er, Netanjahu, dieses Glück gebracht hat. „Ich habe mein Versprechen gehalten und bringe Ihren Sohn und Enkel zurück“, sagte er. Ein Mann also, der Wort hält, dem man vertrauen kann.
Netanjahu steht gemeinhin im Verdacht, Kompromisse für Anzeichen von Schwäche zu halten. Doch jetzt hat er mit der Hamas eine fast außerirdische Gefangenentauschquote von 1:1000 vereinbart – und damit etwas getan, was die meisten Israelis und erst recht das Ausland ihm nicht zugetraut hätten: Er ist über seinen ideologischen Schatten gesprungen. Und das ist ein sehr großer Schatten.
Netanjahu ist der Sohn eines der nationalistischsten, gar reaktionären Historikers, der die Bereitschaft predigte, Israel über alles zu stellen, sich für das Land zu opfern. Benzion Netanjahu, der den Nachnamen seinem Herkunftsnamen Mileikowsky vorzog, stammte aus Warschau. Von dort siedelte er bereits 1920 nach Israel über, wo seine drei Söhne zur Welt kamen, von denen Benjamin der mittlere war.
Alle drei Netanjahu-Söhne waren bei einer Spezialeinheit der israelischen Streitkräfte, die zeitweise so geheim war, dass man sich nicht mal bewerben konnte, sondern empfohlen werden musste. Die Einheit kämpfte gegen Terrorismus, befreite Geiseln und nahm, losgelöst von irgendwelchen Kommandoebenen, gezielte Tötungen vor. Doch im Fall der Netanjahus war am Ende ein Familienmitglied tot.
Der älteste Bruder Jonathan, genannt Joni, starb 1976 bei dem Einsatz am ugandischen Flughafen Entebbe, wo eine Air-France-Maschine aus der Hand von PLO-Terroristen befreit werden sollte. Joni Netanjahu war Kommandeur des Einsatzes – und der einzige Israeli, der dabei starb. Er war 30 Jahre alt. Der jüngere Bruder gründete im selben Jahr das „Jonathan Institute“, das den Terrorismus erforschen soll. Benjamin Netanjahu selbst schrieb darüber ebenfalls mehrere Bücher – vor allem über Bekämpfungsstrategien.
Der ältere Bruder galt als Vorbild des jüngeren. Der Vater, der als Patriarch die Familie dominierte, war das sicher auch. Und anders als der Bruder lebt der Vater noch. Benzion Netanjahu ist inzwischen 101 Jahre alt – und kommentierte über viele Jahre die Regierungspolitik seines Sohns. Das war vor allem in der ersten Amtszeit von Benjamin Netanjahu ab 1996 häufig heftige Kritik an dessen angeblich „nachgiebiger“ Haltung gegenüber den Palästinensern.
Jetzt, in der zweiten Regierungszeit, verstehen sich der sture Uralt-Senior und sein auch nicht mehr ganz junger Sohn politisch glänzend. Was einerseits seltsam ist, denn Netanjahu Junior legt viel Wert darauf, in den Jahren, seit er 1999 – auch als Folge seiner Siedlungspolitik und seiner Taktiererei gegenüber den Friedensbemühungen – abgewählt wurde, zu einem verlässlichen, also auch kompromissfähigen Politiker gereift zu sein. Oder ist die gute Stimmung zwischen Vater und Sohn darauf zurückzuführen, dass der Alte den Jungen ganz gut kennt und zwischen dessen Worten und Taten zu unterscheiden weiß? Oder lässt sie den Schluss zu, dass der Vater dem Sohn schlicht nicht glaubt – wie wohl die meisten in- und ausländischen Gesprächspartner?
Die Wochenzeitung „Die Zeit“ zitierte 2010 einen Minister aus Netanjahus Kabinett mit den Worten „Alles, was er tut, könnte als Vorbereitung für den großen Schritt zum Frieden dienen. Aber es könnte auch nur ein Manöver sein, um die Vorherrschaft über die Rechten wiederzuerlangen.“ Ebenfalls im vergangenen Jahr hatte Netanjahu sich in seiner Rede an der religiösen Bar-Ilan-Universität erstmals, zähneknirschend zwar, aber politisch höchst mutig, für die Zwei-Staaten-Lösung mit den Palästinensern ausgesprochen: Ein Erdbeben erschütterte das „Nationale Lager“, und Nachbeben sind bis heute spürbar. Nachbeben einer Ankündigung wohlgemerkt. Geschehen ist seither nämlich praktisch nichts.
Im Fall des Gefangenenaustauschs dagegen soll es nun schnell gehen. Schon in der kommenden Woche wird der verschleppte Gilad Schalit freikommen, sollen die ersten 477 palästinensischen Häftlinge die israelischen Gefängnisse verlassen. Ob seine nationalistisch-populistischen Anhänger ihn dafür mit „Hejde Bibi“-Sprechchören hochleben lassen, ist zwar zweifelhaft, denn vielen von ihnen ist der Preis, den ihr Anführer für einen einzigen Soldaten zu zahlen bereit ist, zu hoch, doch im Rest des Landes kann er sich feiern lassen.
Deshalb durfte bei dem Auftritt mit den Schalits auch seine sich stets der Öffentlichkeit aufdrängende – dritte – Ehefrau Sarah nicht fehlen. Sie, die darauf besteht, immer als „Gattin des Ministerpräsidenten“ angesprochen zu werden, habe der Soldatenmutter Schalit ebenfalls versprochen, dass Ehemann „Bibi“, wie Netanjahu im ganzen Land genannt wird, als sei er ein nettes Kind, den Soldaten Gilad heimbringen werde. Und Bibi lächelte dazu. Es ist in der jüngeren Zeit eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, in denen seine dritte Gattin und Mutter der beiden Söhne, in der Öffentlichkeit vorkommt – und es hinterher kein Theater gibt. Im Allgemeinen sorgt Sarah Netanjahu für Sorgenfalten auf Bibis hoher Stirn und täglich neue Probleme. Vor allem mit ihren Haushaltshilfen stritt sich die Kinderpsychologin heftig, angeblich nicht nur rein rhetorisch, und selbst vor Gericht.
Doch das zieht nur Schlagzeilen und höhnische Artikel der dem Netanjahu-Paar nicht wohlgesonnenen Presse nach sich. Wesentlich schlimmer für den Regierungschef ist die immer wieder vorgebrachte Kritik an der angeblichen Einmischung seiner Gattin in politische Belange und bei wichtigen Ernennungen. Netanjahu lässt dies stets eifrig dementieren und bestraft Journalisten, die auf Sarahs negativen Einfluss hinweisen, mit Nichtbeachtung bis hin zur Aussperrung von Terminen. Doch in seiner Kanzlei, in dem die Berater im Rekordtempo wechseln, soll es einen Spitzenbeamten geben, der in Echtzeit Frau Netanjahu über alle wichtigen Entwicklungen telefonisch unterrichtet. Die waren in jüngster Zeit nicht gerade positiv.
In den Tagen vor dem Austausch-Deal sagten selbst die besten ausländischen Freunde Israels offen ihre Meinungen, meist sehr kritische. Zuletzt war es Angela Merkel, die ewige Verbündete, die sich telefonisch über seine halsstarrige Haltung in der Siedlungsfrage aufregte. Der deutschen Bundeskanzlerin schmeichelte Netanjahu am Mittwoch ganz offensiv, indem er sein Lob für die deutsche Vermittlertätigkeit in dem Deal mehrfach wiederholte. Und zuvor stöhnte beispielsweise Amerikas Ex-Verteidigungsminister Robert Gates öffentlich und wollte das als Rat an die Regierung Obama verstanden wissen: Netanjahu sei absolut „undankbar“. Und dann lästerte im geschlossenen Minister-Kreis ein sarkastischer französischer Präsident. „Netanjahu enttäuscht uns nie“, soll Nicolas Sarkozy laut „Canard enchainé“ gesagt haben. Der entspreche immer wieder den negativen Erwartungen an ihn.
Sarkozy bezog sich dabei auf die neue Verhandlungsinitiative, die das Nahost-Quartett aus USA, EU, UN und Russland vorgelegt hatte. Kaum war die in der Welt, verkündete Netanjahu den Bau von 1100 Wohneinheiten im annektierten Ost-Jerusalem, die gemäß internationaler Definition als „illegale Friedenshindernisse“ bezeichnet werden. Die Definition basiert auf Völkerrecht und Genfer Konvention. Und im selben Moment begrüßte Netanjahu den neuen Quartett-Fahrplan, der die sofortige Aufnahme der direkten Verhandlungen vorsieht, mit israelischer Betonung auf „ohne Vorbedingungen“. In dieser Woche erst setzte er da noch einen drauf und gab Weisung, die Legalisierung auf palästinensischem Privatland erstellter Siedlungshäuser voranzutreiben.
Während die Welt kaum noch schnell genug gucken kann, darf Netanjahu aus zwei Gründen jubilieren. Zum einen, weil er nach zähen Verhandlungen mit den eigenen Leuten den Gefangenenaustausch durchsetzen konnte, der bei der Bevölkerung Begeisterung auslöst. Und dann hat das Nahost-Quartett tatsächlich seine Argumentation übernommen – und seinen palästinensischen Gegenspieler Mahmud Abbas mit dessen unveränderten Forderungen nach einem umfassenden Siedlungsbaustopp im Regen stehen gelassen. Netanjahu darf das als Erfolg seiner Beharrlichkeit verbuchen.
Gar nicht in seinem Sinn verlief dagegen der innenpolitische Protest gegen seine Sozialpolitik, gegen steigende Mieten und ungerechte Verteilung der Mittel. Netanjahu ist vielen Israelis noch in Erinnerung als Finanzminister, der er 2002 im Kabinett von Ariel Scharon war, der eisern sparte und vielen das Leben schwer machte. Den Sommer über nun haben junge wie alte Israelis in den Straßen von Tel Aviv riesige Zeltstädte aufgebaut und ihrem Ärger Luft gemacht. Es ist ein Ärger, der sich mit Erfolgen gegen die Palästinenser nicht besänftigen lässt. Denn es ärgern sich Menschen, die endlich Frieden wollen – und sie wollen ihrer Regierung vertrauen können.
Charles A. Landsmann