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Junge Israelis feiern in Jerusalem die zu erwartende Freilassung von Gilad Schalit.
© dpa

Gefangenenaustausch: Israelischer Soldat bald frei

Fünf Jahre war Gilad Schalit eine Geisel der radikalislamistischen Hamas. Jetzt kommt er frei. Als Gegenleistung entlässt Israel mehr als tausend Gefangene aus der Haft. Malte Lehming fragt, ob der Preis zu hoch ist.

Mit Terroristen wird nicht verhandelt. Erpressung und Geiselnahme dürfen niemals belohnt werden. Sühne und Gewaltprävention sind unerlässliche Prinzipien einer wehrhaften Demokratie. Der Kopf regiert das Herz, jedenfalls in der Politik, auch wenn es manchmal schmerzt. – All diese Dogmen hat Israel jetzt über Bord geworfen.

Der vor fünf Jahren, also knapp 2000 Tagen oder 50.000 Stunden entführte und von der radikalislamischen Hamas als Geisel gehaltene Soldat Gilad Schalit kommt frei. Im Gegenzug werden mehr als tausend palästinensische Gefangene aus der Haft entlassen. Viele von ihnen haben nicht nur Blut an den Händen, sondern in Blut gebadet. Bald werden sie wieder Attentate verüben können, wie es bereits früher nach ähnlich spektakulären Austauschen geschah. Der Preis ist hoch, der Deal wirkt suizidal.
Dennoch hat ihm die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu zugestimmt. Die Entscheidung wird unterstützt von einer großen Mehrheit im Volk und im Parlament. Maßgeblichen Anteil am Ergebnis der vorausgegangenen Geheimverhandlungen hatten die neue ägyptische Militärregierung und der deutsche Bundesnachrichtendienst. Freuen darf sich darüber vor allem die Familie von Gilad Schalit. Doch selbst diese Freude dürfte getrübt sein von den wohl noch lange nachwirkenden seelischen wie leiblichen Qualen des jungen Mannes durch die Isolationsfolter.

Gilad Schalit wurde vor fünf Jahren entführt. Jetzt kommt er frei. Das Bild stammt aus einem Video, dass seine Entführer 2009 nach Israel schickten.
Gilad Schalit wurde vor fünf Jahren entführt. Jetzt kommt er frei. Das Bild stammt aus einem Video, dass seine Entführer 2009 nach Israel schickten.
© picture alliance / dpa

Ungehemmt triumphieren indes wird die Hamas und sich inszenieren als die einzige Palästinenserorganisation, die das „zionistische Gebilde“ in die Knie zwingen kann. Nie zuvor hat Israel für einen einzelnen Soldaten so viele Verbrecher freigelassen. Der Hamas-Erfolg entzaubert gleichzeitig den vergleichsweise moderaten Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas. Dessen Popularität war gerade erst durch seine UN-Initiative zur völkerrechtlichen Anerkennung Palästinas als Staat gestiegen. Doch tausend befreite Gesinnungsgeschwister wiegen mehr als jede noch so kluge Diplomatie, die faktisch nichts verändert. Lohnt das? Wiegt dieser eine Mensch all die Prinzipienbrüche, enormen Risiken und gefährlichen Machtverschiebungen auf, die Israel bereit ist, für seine Rettung in Kauf zu nehmen? Wer Staaten auf Interessen und Politiker auf kühle Kalkulatoren reduziert, müsste die Frage verneinen. Wer aber auch Werte in Betracht zieht, die sich einer unmittelbaren Kosten-Nutzen-Analyse entziehen, kann kaum anders, als den Verantwortlichen Respekt zu zollen. Im Jerusalem Talmud (Sanhedrin 23a-b) steht: „Wer eine einzige Seele rettet, rettet die ganze Welt.“ Das heißt: Die konkrete Nah-Ethik steht über der abstrakten Fern-Ethik, das Reale über dem Potenziellen, der Mensch über der Menschheit. Es ist eine Ethik, die von humaner Größe zeugt.

Israel befindet sich seit seiner Gründung im Verteidigungszustand. Den Bürgern des Landes wird viel abverlangt. Wir kämpfen für jeden von euch bis zum Äußersten, keiner wird je im Stich gelassen – diese Botschaft nach Innen schweißt die Gesellschaft zusammen. Gilad Schalit symbolisiert daher beides: zum einen die Verwundbarkeit des Landes und die Amoral seiner Feinde, zum anderen die Kraft des Landes und seine Moral. Und wer weiß? Womöglich erwächst daraus auch neuer Mut. Wer Verbrecher freilässt, um einen Menschen zu befreien, kann vielleicht auch ein Volk in die Selbstbestimmung entlassen, um sich selbst vom Joch der Herrschaft über dieses Volk zu befreien.

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