Türkei: Nach dem Putsch ist vor der Diktatur
Der türkische Präsident Erdogan weiß, wie er seine Anhänger mobilisiert – und sich seiner Feinde entledigt. In der Türkei scheint derzeit alles möglich.
Auf dem Taksim-Platz wehen jetzt türkische Fahnen. Sie sind so riesig ausgefallen, dass sich die syrischen Straßenkinder tagsüber an ihre Zipfel hängen und vom Wind meterhoch in die Luft tragen lassen. Nachts hingegen geht es weniger harmlos zu auf dem größten Platz in Istanbul. Dann versammeln sich dort die „Demokratiewächter“, tausende meist jüngere Türken. In der Nacht zum Dienstag haben sie einen Galgen mitgebracht und eine Puppe aufgehängt. Sie wollen die Todesstrafe für die Putschisten.
Freitagnacht war das Volk, das der türkische Staatschef rief, auf die Straßen gegangen, um sich den Soldaten entgegenzustellen. 145 Zivilisten bezahlten das mit ihrem Leben. Seither kommen die Türken jede Nacht auf die Hauptplätze ihrer Städte, landauf, landab, von Istanbul im Westen bis Gaziantep weit im Südosten. Die Regierung hält die Bürger zu dieser „Wacht“ an, die türkischen Mobilfunkbetreiber senden schon tagsüber Textnachrichten an ihre Kunden, damit sie ihre Pflicht zur Verteidigung der Demokratie in der Nacht nicht vergessen. Wer kommt, sind die Anhänger der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP und der rechtsgerichteten Nationalisten der MHP. Die anderen, die liberal Gesinnten, die Minderheiten der Kurden und der Aleviten, bleiben zu Hause. Die „Demokratie“ in der Türkei, so hat man den Eindruck, ist nur noch Tayyip Erdogan und die blutrote Fahne.
Die Rückkehr zur Todesstrafe ist nicht unbeliebt in der Türkei
Montagnacht hat sich der Staatschef erstmals wieder von einem ausländischen Sender interviewen lassen. Becky Anderson, die CNN-Moderatorin, sitzt ihm in der Istanbuler Präsidentenresidenz gegenüber und fragt auch nach der Wiedereinführung der Todesstrafe. Das Volk fordere den Tod dieser Terroristen, sagt Erdogan über die Putschisten: „Warum sollte ich sie auf Jahre hinweg im Gefängnis halten und füttern? Das sagen die Leute.“ Der Satz stammt von Kenan Evren, dem Juntachef und späteren Präsidenten, der sich 1980 an die Macht geputscht hatte. Wenn das Parlament eine solche Entscheidung über die Wiedereinführung der Todesstrafe treffe, dann werde er ihr zustimmen, kündigt Erdogan an.
Der Weg dafür scheint schon offen – politisch zumindest. Der Führer der rechtsgerichteten Oppositionspartei MHP, Devlet Bahçeli, erklärt am Dienstag in einer Rede vor der Fraktion seine Zustimmung. „Wenn die AKP dazu bereit ist, sind wir es auch“, sagt Bahçeli. „Die Putschisten sollen nie wieder Tageslicht sehen.“ Nur widerwillig hatte der Nationalistenchef und EU-Gegner 2002 nachgegeben, als sich das türkische Parlament erstmals für die Abschaffung der Todesstrafe aussprach. Bahçeli war damals stellvertretender Ministerpräsident in der letzten Regierung vor der Machtübernahme der AKP. Er und seine Anhänger haben die Abschaffung der Todesstrafe immer für einen Fehler gehalten.
Zusammen mit den Abgeordneten der AKP verfehlen sie zwar heute knapp die Zweidrittelmehrheit im Parlament, die für Verfasungsänderungen wie die Wiedereinführung der Todesstrafenotwendig wäre. Doch sie erreichen leicht das Quorum von 330 Stimmen; damit könnte ein Antrag zur Änderung des Artikels 38 dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden. In der derzeit aufgewühlten Stimmung gilt die Annahme als wahrscheinlich.
Was ist derzeit unmöglich in der Türkei?
Aus juristischer Sicht gibt es allerdings eine Hürde: In einem Rechtsstaat gilt das Verbot der Rückwirkung. Auch wer eine Straftat begeht, kann nicht durch ein nachträglich geändertes Gesetz härter bestraft werden. Die Hinrichtung der Putschisten, die sich das Erdogan-Volk wünscht, kann es – anders als dies Erdogan und sein Regierungschef Binali Yildirim der Öffentlichkeit suggerieren – eigentlich nicht geben. Doch dann wiederum scheint in der Türkei derzeit alles möglich, auch der Bruch der Menschenrechtskonvention.
Die „große Säuberung“ geht am Dienstag weiter. Dieses Mal trifft sie auch Bedienstete des Staatsfernsehens, des staatlichen Amts für religiöse Angelegenheiten, selbst das Amt des Ministerpräsidenten. Mehr als 20.000 Soldaten, Polizisten, Richter und Staatsanwälte sind bereits suspendiert, Tausende verhaftet. Da kündigt der Bildungsminister auch Untersuchungen gegen 15.200 Lehrkräfte im Land an.
Wieder kommen auch neue Details zum Putsch zutage. So soll der türkische Geheimdienst am vergangenen Freitag bereits um 16 Uhr die Armeeführung von einem bevorstehenden Putsch unterrichtet haben, mehr als fünf Stunden vor Beginn des Aufstands. Auch Staatspräsident Erdogan, der zu diesem Zeitpunkt Urlaub in Marmaris macht, musste informiert worden sein. Denn Hakan Fidan, der Chef des Geheimdienstes, ist sein Vertrauter. Dennoch erklärt Erdogan: Wäre er nur 15 Minuten länger im Hotel in Marmaris geblieben, wäre er getötet worden.