Corona macht's möglich – Wirtschaft statt Identitätspolitik: Moralisch sein kann jeder, kompetent sein erfordert Arbeit und Anstrengung
Die Krise hat die Politik zurück auf den Boden der Tatsachen geholt. Für linke Parteien eine Herausforderung. Ein Gastbeitrag.
- Nils Heisterhagen ist Sozialdemokrat und Publizist. Sein neues Buch „Verantwortung“ ist gerade im Dietz-Verlag erschienen.
Das sind alles keine guten Nachrichten für die deutsche Volkswirtschaft, die in den vergangenen Jahren in einer selbstzufriedenen Wohlstandsblase lebte und ein unerschütterliches Unverwundbarkeitsgefühl hatte:
Bis Mai wurden bereits mehr als zehn Millionen Anzeigen für Kurzarbeit getätigt. Im Mai kamen nun weitere 1,06 Millionen Anzeigen dazu.
2,8 Millionen Menschen waren im Mai arbeitslos gemeldet. Fast 170.000 mehr als im April. Und 577.000 mehr als im Mai 2019.
Folgen der Coronakrise, zu deren Kosten das Ifo-Institut jüngst Berechnungen erstellt hat. Dort heißt es: „Je nach Szenario schrumpft die Wirtschaft um 7,2 bis 20,6 Prozentpunkte. Das entspricht Kosten von 255 bis 729 Milliarden Euro.“ Weiter: „Eine einzige Woche Verlängerung der Teilschließung verursacht den ifo-Berechnungen zufolge zusätzliche Kosten von 25 bis 57 Milliarden Euro und damit einen Rückgang des Wachstums um 0,7 bis 1,6 Prozentpunkte.“
Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, erwartet die „Mutter aller Rezessionen“. Der Handelsverband (HDE) fürchtet 50 000 Insolvenzen in seiner Branche.
Dazu kommen Absatzprobleme der deutschen Industrie in Ländern, die deutlich heftiger vom Virus getroffen wurden: Auto-Neuzulassungen haben sich in der EU im März halbiert. In Italien und Spanien brachen sie im März sogar um 85,4 beziehungsweise 69,3 Prozent ein. Der März war aber eigentlich nur ein halber Lockdown-Monat.
Und dieser Sommer ohne die üblichen Touristen wird in den europäischen Südländern so hohe volkswirtschaftliche Kosten verursachen, dass dort für ein bis zwei Jahre kaum irgendwer ein deutsches Auto kaufen wird. Zwar werden der geringe Ölpreis und die Angst vor Infektionen in überfüllten Bussen und Bahnen mittelfristig zu einer Renaissance des Individualverkehrs führen. Doch das Motto dürfte sein: Eher einen Dacia als einen Daimler.
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Die neue globale Rezession und diese Virus-Krise reißen Deutschland also hart aus seiner Illusion eines unaufhaltsamen Fortschritts und der Fiktion ökonomischer Stabilität. Seiner geliebten Illusion: Wohl kein Land der Welt wollte an das am Anfang der 1990er Jahre ausgerufene „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) so gerne glauben wie unser Land. Zehn Jahre Wirtschaftsstabilität und Aufschwung seit 2009 verfestigten dann noch das Bild der Unverwundbarkeit.
Das Narrativ der „Autobahn des Fortschritts“ (Pankaj Mishra) führte aber auch zu einer politischen Themenverschiebung. Weil die Wirtschaft ja lief, brauchte man nun andere Ideenfelder. Nur welche? Der Kalte Krieg war auch zu Ende und damit der Systemwettbewerb. Liberal wurden bald alle. Die Linken wurden kulturell liberal und forcierten Freiheitsbewegungen wie die Ehe für alle, Kindertagesstättenausbau für mehr ökonomische Freiheit der berufstätigen Frau, offene Grenzen für Migration, erst innerhalb Europas und dann ab 2015 auch länger für Asylsuchende.
Bei der Migration ist die Änderung hin zu einer sehr liberalen Haltung am Offensichtlichsten. Die Gewerkschaften waren es nämlich, die stets bei Einwanderung und Asyl bremsten, während die Arbeitgeberverbände für offene Grenzen waren, um Lohndruck zu erzeugen. Die deutsche Linke fühlte sich über Jahrzehnte dem deutschen Arbeitnehmer verpflichtet: den Sozialstaat zu schützen, Beschäftigung in der beginnenden Globalisierung zu sichern und volkswirtschaftlichen Wohlstand zu fördern. Das war ihr materieller Fokus.
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Und dieser Materialismus zog sich durch eigentlich alle Politikfelder. Bildungspolitik wurde ökonomisch gedacht (Bildungsexpansion), so auch Innere Sicherheit (mehr Geld für Stellen oder Ausrüstung bei den Sicherheitsdiensten), Forschungspolitik (was kann der Staat fördern). Ja, selbst der Feminismus war ökonomisch geprägt. Er fragte danach, was die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt erleichterte oder den Gender-Pay-Gap mildern kann, während heute der Feminismus zunehmend Rollenbilder problematisiert und als ein weltanschaulicher Kulturfeminismus auftritt, der die Identität und Selbstverständnisse von Frauen und Männern zum Thema hat.
Insgesamt war die Modernisierung des Landes überwiegend ökonomisch unterlegt, in dem Sinne, wie das Land sich neu aufstellen muss, um als Ganzes gerechter, aber auch wohlhabender zu werden. Das änderte sich in der identitätspolitischen Wende der Linke zu einer liberalen Kulturlinken. Modernisierung ist heute oft kulturell und weltanschaulich verstanden.
Entsprechend verschwanden Arbeiter und Handwerker immer mehr aus dem Funktionskörper der Partei. Stattdessen kamen mehr Studentinnen und Studenten hinein. Und nicht nur, weil es gesamtwirtschaftlich lange gut lief, sondern auch durch das soziale Kapital, das die Immatrikulierten in der Regel mitbringen, entstand innerhalb linker Parteien eine immer postmaterialistischere Funktionärsschicht. Die bezieht ihr Gehalt im öffentlichen Dienst, an Universitäten, oder gleich als Berufsrepräsentanten der Parteien.
Betriebsräte, die noch das Wissen über konkrete Probleme aus ihren Betrieben in die Parteien einspeisten, sind auch immer weniger dort zu finden. So kann es passieren, dass Postmaterialismus programmatisch und personell das Bewusstsein einer Partei bestimmt. Die Grünen prägen diesen kulturakademischen Habitus am Stärksten – auch weil ihr Akademisierungsgrad am höchsten ist. Aber unter den Jusos sind junge Menschen ohne Studium der Geistes- und Sozialwissenschaft oder der Juristerei auch kaum noch zu finden. Dabei beträgt die Akademisierungsquote in der Bevölkerung nur 17,6 Prozent.
Die politikökonomische Sprachlosigkeit der Linke hatte Folgen
Was die politische Linke in der Folge dieser postmaterialistischen Entwicklung nicht mehr sonderlich interessierte, waren politikökonomische Initiativen und Alternativen zu entwickeln. Diese politikökonomische Sprachlosigkeit der Linke hatte sodann aber auch Folgen bei den Wahlen. Wirtschaftskompetenz etwa erkannte man nun mehr bei der politischen Rechten. Die Neoliberalen und liberal-konservativen Pragmatiker blieben sich nämlich seit der neoliberalen Revolution in Großbritannien und den USA und Helmut Kohls „geistig-moralischer Wende“ erstaunlich treu.
Sie blieben neoliberal und forcierten die Geschichte der Globalisierung weiter, die alle Boote hebt, wenn sie nur möglichst dereguliert ablaufen könnte. Nachdem „New Labour“ und die „Neue Mitte“ scheiterten, waren sie es nun, die als Einzige wirklich Wirtschaftspolitik betrieben, während die politische Linke sie dabei als Steigbügelhalter entweder unterstützte oder eben kein Interesse mehr hatte, überhaupt einen Unterschied zu ihnen zu markieren und sich lieber mit einem progressiven Kulturliberalismus profilierte.
Seit geraumer Zeit hat sich diese zuletzt als „progressiver Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) kritisierte liberale Allianz weitgehend überlebt. Bernie Sanders, Jeremy Corbyn, Kevin Kühnert sind nur einige Namen eines „New Wave Socialism“. Sozialdemokratische Parteien sind zwar überwiegend weiterhin kulturell liberal bis hyperliberal, aber in der Sozial- und Steuerpolitik rücken eigentlich fast alle Parteien der sozialdemokratischen Parteienfamilie von „New Labour“ und ihrer Annäherung an neoliberale Positionen ab.
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Seit Neustem wird ihnen daher nicht mehr zum Vorwurf gemacht, dass sie nicht links genug seien, sondern vielmehr sogar zu links. Bernie Sanders und Jeremy Corbyn seien vor allem daran gescheitert, dass soziale Ungleichheit und Besteuerung der Reichen eigentlich ihre einzigen Themen seien. Dem neuen Führungs-Duo der SPD wird zunehmend vorgeworfen, eigentlich jede Woche eine neue Steueridee zu haben, sonst aber recht blass und innovationslos zu sein. Kevin Kühnert wird sein demokratischer Sozialismus als kindliche Übertreibung eines Dauerstudenten ohne Realitätssinn ausgelegt.
Innerparteiliche Kämpfe müssen die SPD-Linken in der Sozial- und Steuerpolitik auch kaum noch führen, seitdem der rechte Flügel der SPD, der Seeheimer Kreis, bei Fragen des Mindestlohns oder der Steuerpolitik nahezu so links ist, wie der pragmatischere Teil des linken Flügels der Partei. Die Forderung eines Lastenausgleiches zur Bewältigung der Corona-Folgen wird nicht nur von Saskia Esken erhoben, sondern auch von Sigmar Gabriel. Eine Vermögenssteuer befürwortet heute der ehemalige Generalsekretär des Neue-Mitte- Kanzlers Gerhard Schröders, nämlich Olaf Scholz.
Der Materialismus ist auf einer Ebene also bereits zurückgekehrt, nämlich bei der „sozialen Frage“. Weltanschauliche Fragen werden nun durch Corona nicht einfach sofort verschwinden. Spätestens im heißen Sommer wird „Fridays for Future“ beispielsweise wieder mit Klimasymbolik aufdrehen. Aber Corona wird realpolitische Diskussionen um Arbeitsplätze, wirtschaftlichen Wohlstand, Digitalisierung, geopolitischen Wettbewerb Europas mit China und den USA zurückbringen.
Die kommende Rezession führt Politik also zunehmend auf den Boden der Tatsachen zurück. Mit diesem Boden der Tatsachen ist hier die Ökonomie gemeint. Wirtschaftspolitik wird im Zentrum der Debatten dieses Jahres und des Wahlkampfes im nächsten Jahr stehen. Die Union ist es, die bislang von dieser Rückkehr des Materialismus am Stärksten profitiert. Das liegt daran, dass sie seit Langem bei der Wirtschaftskompetenz, aber auch in fast allen anderen Politikfeldern, ein höheres Vertrauen genießt als ihr zentraler Mitbewerber SPD. Der Unterschied bei der Wirtschaftskompetenz etwa, liegt bei 42 zu neun Prozent, wie eine Analyse von Infratest Dimap im Januar ergab. Seit der Corona-Krise sind das Vertrauen und vor allem das Zutrauen in die Kompetenzen der Union noch einmal gewachsen.
Moral kann jeder, Ökonomie nicht
Laut einem RTL/ntv-Trendbarometer des Instituts Forsa von Anfang Mai trauen 47 Prozent der Bundesbürger der Union zu, mit den Problemen in Deutschland am besten fertig zu werden, während es bei der SPD nur sechs Prozent sind. Das sind gewaltige Unterschiede. Die SPD hat ihre politikökonomischen Kompetenzen aus beschriebenen Gründen schleifen lassen, was sie nun in der Krise dazu zwingt, dem Aufstieg der Union nur zuschauen zu können. Ihr wird schlicht nicht genug zugetraut.
Die linken Parteien, insbesondere die SPD, sollten die Corona-Krise daher auch als ihre programmatische Reinigung auffassen. Corona bringt das Ende der Identitätspolitik. Aber nur, wenn dieses Ende von Funktionären der linken Parteien anerkannt wird, und wenn begonnen wird sach- und realpolitische Kompetenzen (vorrangig in der Wirtschaftspolitik) zurückzugewinnen, kann die Corona-Krise zu einer Rehabilitierung der politischen Linke beitragen.
Wenn es schließlich auch gelingen sollte, in der Klimapolitik und Migrationspolitik eine materialistische Wende einzuläuten, könnte die politische Linke erheblich zu einer Deradikalisierung politischer Diskurse beitragen und den rechten Populismus zurückdrängen. Und zudem insgesamt bei Wahlen wieder zulegen. Das gilt vorrangig für die SPD. Sie könnte der größte Gewinner einer materialistischen Wende werden.
Um eine materialistische Wende einzuläuten, muss man sich aber der Komplexität des 21. Jahrhunderts stellen. Nur die Fähigsten aller Parteien können innerhalb einer materialistisch geprägten Kultur aufsteigen. Moralisch kann jeder sein. Kompetent zu sein, erfordert Arbeit und Anstrengung. Niemand soll daher sagen, dass es auf dem Boden der Tatsachen einfach ist, einen stabilen Stand zu haben.
Auf dem Parkett des Realismus werden nur einige brillieren können. Aber sie könnten unsere Demokratie nach Corona in eine neue stabilere Phase führen. Nach Jahren des Aufstiegs des Populismus, sollte daher eine Chance in Corona gesehen werden. Jetzt ist die Zeit für eine Disruption der politischen Kultur gekommen. Die Demokratie kann nur gewinnen, wenn wir etwas in der Themenfokussierung ändern.
Nils Heisterhagen
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