Political Correctness: Der Hochmut der Vernünftigen
Offene Gesellschaften kann man auch zu Tode verteidigen: Wer in der Krise das Tempo des liberalen Kulturkampfes steigert, stärkt vor allem die Gegenkräfte. Ein Essay.
Für diesen Essay, der zum ersten Mal im vergangenen Dezember erschienen ist, hat Tagesspiegel-Redakteur Hans Monath gestern Abend den Theodor-Wolff-Preis bekommen. Wir veröffentlichen ihn hier deshalb noch einmal.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee des römischen Kaisers Claudius, auch noch Groß-Britannien zu erobern. Wenige Jahrzehnte danach reichte das Römische Reich von Schottland bis zum Sudan, vom Kaukasus bis zur Iberischen Halbinsel – ein Territorium, das mit riesigem Einsatz von Geld, Material und Menschen verteidigt werden musste.
Rund 2.000 Jahre später fand ein US-amerikanischer Wissenschaftler einen Begriff für die Selbstüberforderung einer Großmacht, die zu viel auf einmal will und sich beim Einsatz ihrer Ressourcen verzettelt: „imperial overstretch“. Das Phänomen gilt als Vorstufe für den Verfall von Großreichen. In einem anderen Imperium, nämlich in den USA, diskutieren liberale Meinungsführer seit der Präsidentenwahl, ob ihre eigene Selbstgerechtigkeit und ihre Blindheit für die Nöte der Trump- Wähler dessen Erfolg erst möglich gemacht haben. Wer die Debatte verfolgt, könnte auf die Idee kommen, dass eine Art moralischer „imperial overstretch“ vorlag: Die liberalen Kräfte wollten überall zugleich auf dem Globus des Fortschritts präsent sein, zu viel Ziele zu schnell erreichen, ohne aber über die Mittel zu verfügen, überraschende Attacken zurückzuschlagen.
Das Phänomen „imperial overstretch“ ist nicht auf die USA beschränkt. Denn niemand wird eine Gesellschaft voranbringen, der für die Brüche des Fortschritts kein Verständnis hat. Auch die Durchsetzung von Rechten und die Beendigung von Diskriminierung, auch Emanzipationsgewinne produzieren Verlierer – zumindest gefühlte Verlierer, die gewaltige politische Kraft entwickeln können.
Die Wahl Obamas galt als Durchbruch - aber nicht für alle
So hat etwa der Berliner Politikwissenschaftler Timo Lochocki die Erfahrung westeuropäischer Sozialdemokraten mit Migrations- und Asylfragen untersucht. Sein Ergebnis: Überall dort, wo das Flüchtlingsthema die Debatte dominierte und die Sozialdemokraten sich mit ihrem humanitär-progressiven Kurs durchsetzten statt Kompromisse zur Begrenzung von Zuwanderung zu schmieden, verloren sie mittelfristig die Mehrheitsfähigkeit. Jene sozialdemokratischen Wähler eher autoritärer Prägung, die sich nicht mehr vertreten sahen, suchten sich andere Repräsentanten.
Die Wahl des ersten schwarzen Präsidenten in den USA war ein von der liberalen Welt gefeierter Durchbruch. Doch nach dem Urteil vieler Analytiker verstärkte sie die Ressentiments und die Wut der abgehängten weißen Unterschicht. Traditionell hatten deren Angehörige ihr Selbstbewusstsein daraus bezogen, dass sie auf die Gruppe heruntersehen konnten, deren Vertreter nun ins Weiße Haus einzog. Nun fühlte sich die „White working class“ vollends abgehängt und wurde für Trumps Versprechen anfällig – erst recht, als sie sich auch noch mit einer weiblichen Kandidatin der Demokraten konfrontiert sahen. Eine Präsidentin war in ihrem traditionellen Rollenbild der Frau nicht vorgesehen, das machte ihnen Angst – und sie wehrten sich mit dem Stimmzettel.
Solche Vorurteile gegen Afroamerikaner oder Frauen lehnt jeder Anhänger einer offenen Gesellschaft entschieden ab. Doch die bloße moralische Verurteilung solcher dumpfen Haltungen und Gefühlslagen durch eine gebildete Elite ändert überhaupt nichts daran, dass Millionen von Menschen sich genau davon leiten lassen. Wie also besser mit solchen Widerständen umgehen?
Die Klügeren unter den Atheisten bestreiten zwar die Existenz Gottes, akzeptieren aber Religion als soziale Tatsache. Ähnlich sollten die Klügeren unter den Verteidigern des Fortschritts sich verhalten: Sie können mehr erreichen, wenn sie die Ablehnung der kulturellen Moderne als Tatsache akzeptieren und deshalb viel genauer auf die Wirkung der eigenen Überzeugungsversuche schauen können. Wer aber ein Monopol der eigenen Urteile im öffentlichen Diskurs durchsetzen will und damit den Eindruck von Indoktrination erweckt, macht die Gegenkräfte stark.
Der Rassismus-Vorwurf ist schnell zur Hand
Im deutschen Flüchtlingsdiskurs ist ein seltsames Phänomen zu beobachten. Ausgerechnet viele derjenigen Geister, die für ein kulturell vielfältiges, uneinheitliches Deutschland streiten, akzeptieren jenseits der eigenen Meinung kaum mehr etwas und hantieren schnell mit dem Rassismus-Vorwurf, wenn ein anderer nur auf die beschränkten Möglichkeiten der Flüchtlingsaufnahme hinweist.
Den fatalen Mechanismus der Skandalisierung im Umgang mit Rechtspopulisten hat von allen SPD-Politikern am besten Olaf Scholz beschrieben. Der Hamburger Bürgermeister und Parteivize warnte seine eigene Partei im Sommer entschieden davor, etwa die AfD mit Nazis gleichzusetzen oder sich ständig öffentlich über die bloße Existenz dieser Partei zu echauffieren, denn damit füttere man nur die Erregungsmaschinerie.
Gemeint ist: Jede öffentliche Anklage wiederholt in den Medien nur die Reizworte und Sprachbilder der Reaktionäre ein weiteres Mal – und die entfalten ihre Wirkung auch dann, wenn sie nach rationalen Kriterien sauber widerlegt werden. In den USA ist genau das passiert: Es gab kaum ein seriöses Medium, das Trump keine Lügen nachwies und nicht vor ihm warnte. Doch genau daraus zog er schließlich seine Kraft – aus der geschlossenen Ablehnung der Meinungselite.
Die umstrittenen, aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen von EU-Kommissar Günther Oettinger über Chinesen („Schlitzohren und Schlitzaugen“) und Entwicklungsminister Gerd Müller über die Geldverwendung männlicher Afrikaner („Alkohol, Suff, Drogen, Frauen natürlich“) erinnern an rassistische Stereotype, machen aus beiden Politikern aber keine Rassisten. Wer solche Verfehlungen in bester Absicht skandalisiert und Rücktritte verlangt, läuft Gefahr, das Geschäft der Gegenseite zu betreiben. Die Empörung bliebe wirksamer, wenn sie sich gegen Menschen richtet, die tatsächlich zum Rassenhass aufrufen. Wenn der Eindruck entsteht, die kulturellen Codes einer liberalen Elite sollten ohne Rücksicht durchgesetzt werden, wird das keine guten Folgen haben. Gegen wenig sind Menschen so allergisch wie gegen Bevormundung.
Die Maßlosigkeit der Fortschrittlichen und der "basket of deplorables"
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, der rechtspopulistischer Sympathien unverdächtig ist, warnt dringend vor der kulturellen Hybris der Linken: Ein „kosmopolitischer Geist mit überschießender Moralität“, so hat er kürzlich argumentiert, wirke wie ein Wachstumstreiber für den Rechtspopulismus. Zumindest dann, wenn „die Medien, die Fortschrittlichen, die besser Gestellten und der ,Chorus der Vernünftigen‘“ sich damit zufrieden geben, die eigenen Interessen und die eigene kulturelle Moderne zu verteidigen, „die da unten“ nicht mehr verstehen und Verstöße gegen die liberalen Normen mit dem Ausschluss aus dem offiziösen Diskurs beantworten.
Im Geltungsanspruch der Menschenrechte ist ein Auftrag angelegt, der nie zu erfüllen ist und ständig neue Ungerechtigkeiten produziert. Ihre Durchsetzung kennt nämlich so wenig Grenzen wie die kapitalistische Wirtschaftsform, sie erweitern ständig ihren Markt. Amnesty International kann also nie arbeitslos werden.
Seitdem sich beispielsweise in der Gesellschaft nach langen Kämpfen die Einsicht durchgesetzt hat, dass die Diskriminierung sexueller Veranlagungen gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt, wurde die Strafe für homosexuelle Handlungen abgeschafft. Die Aktivisten der bunten Gesellschaft entdecken Jahrzehnte später aber ständig neue Ungerechtigkeiten, kämpfen etwa um ein uneingeschränktes Adoptionsrecht. Der Grünen-Abgeordnete Volker Beck klagt aktuell darüber, dass Lebenspartnerschaften den Ehen im Sprengstoffgesetz noch nicht gleichgestellt sind. Beck will erreichen, dass auch Lesben und Schwule in Lebenspartnerschaften die Lizenz zum Sprengstoffhandel wie Eheleute vom verstorbenen Partner erben dürfen. Wie viele Lesben und Schwule in Deutschland bereiten sich tatsächlich darauf vor, ein Geschäft für Dynamit und TNT zu übernehmen?
Alles Unerreichte wird stilisiert zum Skandal
Zwar ist die Gesellschaft seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts einen riesigen Schritt vorangekommen, doch wegen des „Narzissmus der kleinsten Differenz“ (Sigmund Freud) beschreiben manche Aktivisten das nun noch Unerreichte erneut als Skandal ungeheuren Ausmaßes. Damit verrutschen aber die Maßstäbe, das Gefühl für Proportionen geht verloren.
Was herauskommt, wenn selbst ernannte Fortschrittskräfte die kulturelle Herrschaft übernehmen, lässt sich in Berlin im rot-rot-grünen Koalitionsvertrag studieren. „Gender Mainstreaming“ ist dort tatsächlich eine Vorgabe für die Verkehrspolitik. Über viele Seiten hinweg werden Instrumente ausgebreitet, mit denen die Lage von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen, Transgender, Intersexuellen und Menschen, die sich als Queer verstehen, verbessert werden soll. Zusammengefasst sind die Gruppen im Koalitionsvertrag unter dem Kürzel „LSBTTIQ*“ (das Sternchen steht für alle weiteren, nicht explizit genannte Formen von Nicht-Heterosexualität, d. Red.).
Auch wird vorgeschrieben, wie „Diversity- und Queerkompetenz“ in Verwaltung und Schulen durchgesetzt werden soll. Kurz: Es liest sich wie ein Katalog staatlicher Umerziehung und kultureller Hybris: Berlins Partnerstädte sollen kritisiert werden, wenn das wegen deren Verstößen gegen „LSBTTIQ*“-Normen nötig scheint. Übrigens: Sexistische Werbung will die Koalition sogar auf privaten Werbeflächen durch die Bildung eines „Expert*innengremiums“ verhindern. Wie würden Wartende in einem Berliner Jobcenter wohl reagieren, wenn man ihnen vorlesen würde, mit welcher Leidenschaft sich ihre Regierung solchen Aufgaben widmet? Kein Zweifel: Der Kampf für Minderheitenrechte ist ein aufklärerischer Akt. Sofern er aber blind ist für seine Wirkung auf Gruppen von Menschen, die diesen Kampf kritisch sehen, und blind ist für soziale Unterschiede, kann er die Gegner der Aufklärung stärken. Darin liegt seine gefährliche Dialektik.
Je mehr Trump attackiert wurde, desto besser fanden ihn viele
Man könnte Wolfgang Merkel sogar noch zuspitzen: Das ausgebreitete emanzipative Programm der Liberalen und Linken wurde zumindest in den USA von der „White working class“ als Instrument des Klassenkampfes empfunden – und es spricht manches dafür, dass Ähnliches auch in Deutschland passiert. Alle Attacken Hillary Clintons oder der etablierten Medien auf die Unkorrektheiten des Immobilienmilliardärs Donald Trump im Wahlkampf bewiesen in den Augen seiner Anhänger nur, dass er auf dem richtigen Weg war, es jenen Kräften zu zeigen, von denen sie sich verraten fühlen.
Wer als Scheinselbstständiger zwölf Stunden am Tag Amazon-Pakete ausfährt, wer das Geld für die Klassenfahrten seiner Kinder nicht aufbringen kann, auch wer ein gutes Einkommen hat, aber von Abstiegsängsten geplagt wird, empfindet die Emanzipationsideale der gut ausgebildeten, linksliberalen Eliten schnell als Kriegserklärung von oben. Das fühlten die Trump-Anhänger in den USA schon lange, bevor Hillary Clinton sie als „basket of deplorables“ („ein Korb voller Bedauernswerter“) verhöhnte.
Mit anderen Worten: Wer statt existenzielle soziale Fragen zu beantworten, damit das Tempo des Kulturkampfes steigert, muss sich über ein Ergebnis wie das bei den US-Präsidentschaftswahlen nicht wundern. Es gibt auch in Deutschland viele Millionen Menschen, die nie in einem Uni-Seminar über Gender-Politik debattiert haben und statt Aufsätze von Judith Butler zu lesen lieber „Dschungelcamp“, „Frauentausch“ oder „The Biggest Loser“ schauen. Womöglich stehen wir vor einer Wahl: Entweder die existierende liberale Gesellschaft gegen ihre Verächter zu halten oder aber deren Gegnern durch einen fortgesetzten moralischen „imperial overstretch“ zu stärken.
Der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington, Bastian Hermisson, hat es auf dem Grünen-Parteitag kürzlich auf den Punkt gebracht. „Wir sollten uns an die eigene Nase fassen. Was moralisch richtig ist, wissen wir sowieso, und wir blicken mitleidig auf die anderen, die noch nicht soweit sind“, erklärte er in einer fulminanten Rede und warnte, das werde nicht reichen. Sein Rat war nicht Abgrenzung, sondern Öffnung: „Wir müssen mit Andersgesinnten Kontakt suchen. Ansonsten sind wir selbst Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.“
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