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Absperrgitter stehen vor dem Gerichtsgebäude in Silivri, in dem am Mittwoch der Prozess gegen die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu begann.
© Can Merey/dpa
Update

Prozess in der Türkei: Mesale Tolu bleibt in Haft

Sie sei eine "Geisel", sagt ihre Familie. Sie unterstütze eine Terrorgruppe, sagt die Anklage. Am Abend wird bekannt: Mesale Tolu muss in U-Haft bleiben.

Blass ist Mesale Tolu, als sie mehr als fünf Monate nach ihrer Festnahme am Mittwoch vor Gericht erscheint – blass, aber offensichtlich gefasst und guten Mutes. In einem unterirdischen Saal im riesigen Komplex des Hochsicherheitsgefängnisses Silivri westlich von Istanbul, wo die meisten ihrer Mitangeklagten einsitzen, hat sie in der dritten Reihe zwischen ihren Leidensgenossen Platz genommen – elf Männer und zwei weitere Frauen, alle jung und bis auf Tolu alle türkische Staatsbürger. Den Angeklagten, auch der 33-Jährigen aus Ulm, wird die Unterstützung einer Terrorgruppe vorgeworfen. Für Mesale Tolu, Bundesbürgerin türkischer Abstammung, aber ohne türkischen Pass, fordert die Anklage bis zu 15 Jahre Gefängnis.

In den frühen Morgenstunden des 30. April war Tolu, Übersetzerin bei der linken Nachrichtenagentur Etha, von einer Antiterror-Einheit der Istanbuler Polizei festgenommen worden; Mitte Mai kam sie in Untersuchungshaft. Seitdem sitzt sie zusammen mit ihrem kleinen Sohn Serkan im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy. Die Bundesregierung kritisiert, Tolu und andere Deutsche seien in der Türkei aus politischen Gründen in Haft. In Silivri warten auch der „Welt“-Journalist Deniz Yücel und der Menschenrechtler Peter Steudtner hinter Gittern auf ihren Prozess. Tolu sei eine „Geisel“, sagt ihre Familie.

Deshalb beginnt an diesem Morgen in Silivri nicht einfach nur ein weiterer Prozess gegen Terrorverdächtige in der Türkei. Zum ersten Mal befasst sich ein Gericht mit einer Bundesbürgerin, deren Fall einer der Gründe für die erheblichen Spannungen zwischen Ankara und Berlin ist. Tolus Schicksal ist zu einer hochpolitischen Angelegenheit geworden. Je nach Ausgang des Prozesses könnte es neue Turbulenzen oder aber die Hoffnung auf eine Entspannung geben.

Mesale Tolu sucht im Gerichtssaal den Blick ihres Vaters

Im Gerichtssaal wirkt Tolu gepflegt, sie trägt die Haare inzwischen auf knapp Schulterlänge geschnitten und hat sich mit der Kleidung etwas mehr Mühe gegeben als die meisten anderen Angeklagten: Zur Jeans trägt sie ein weißes Hemd, ein tailliertes himmelblaues Jackett und flache Ballerinas. Immer wieder dreht sie sich um und blickt mit strahlendem Lächeln in den Zuschauerraum, sucht den Blick ihres Vaters und winkt Freunden zu.

Nervös wirkt sie nur einen Augenblick lang, während der Vorsitzende Richter die Anklagezusammenfassung verliest – da wippt sie mit dem Fuß, streicht sich durchs Haar und verschränkt dann die Arme vor der Brust, die Hände unter die Achseln geklemmt. Ansonsten tuschelt sie mit ihrer Nachbarin, einer jungen Frau im lila Kleid, blickt über ihre Verteidigungsrede, die sie in der Hand hält, und strahlt immer wieder über die Schulter in den Zuschauerraum.

Mit diesem Plakat fordern Unterstützer in Deutschland die Freilassung von Mesale Tolu.
Mit diesem Plakat fordern Unterstützer in Deutschland die Freilassung von Mesale Tolu.
© Stefan Buchner/dpa

Seine Tochter sei eine starke Frau, eine Kämpferin, sagt Ali Riza Tolu, während er vor dem Gerichtssaal auf Einlass wartet. „Und wenn sie rauskommt, bleibt sie in der Türkei und schreibt weiter“, sagt er. „Damit die Völker wissen, in was für einem Land wir hier leben.“ Irgendjemand müsse das ja tun, fügt er hinzu.

Tolu, der in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland ging und dort eine Familie gründete, campiert seit Monaten in der Türkei, um sich für seine Tochter und deren ebenfalls inhaftierten Ehemann einzusetzen. Zuletzt hat er Mesale an diesem Montag besuchen können.

Über die Haftbedingungen im Frauengefängnis Bakirköy will sich Ali Riza Tolu nicht beklagen – sie seien besser als in Silivri und anderen Anstalten, sagt er. Seine Tochter lebt mit 17 anderen Frauen zusammen und darf täglich etwa zwei Stunden an die frische Luft. Tolus kleiner Sohn darf in der Gemeinschaftszelle mit einem blauen Ball spielen, andere Spielsachen hat die Gefängnisleitung verboten.

Ali Riza Tolu hätte den deutschen Botschafter bei dem Prozess erwartet

Schlecht zu sprechen ist der Vater auf die Bundesregierung und ihre Vertretung in der Türkei. Vor der Bundestagswahl hätten alle große Worte gemacht, vor allem Merkel und die Grünen, sagt er. „Und jetzt ist nichts mehr.“ Zumindest hätte er den deutschen Botschafter beim Prozess erwartet, doch der ist nicht gekommen. Die Bundesrepublik wird von zwei Mitarbeiterinnen des Konsulats in Istanbul vertreten. Auch mehr Politiker hat Ali Riza Tolu sich beim Prozess erhofft, doch erschienen ist nur eine Bundestagsabgeordnete: Heike Hänsel, Fraktionsvize der Linken.

Mesale Tolu sei „der deutsche Pass zum Verhängnis geworden“, sagt Hänsel, die sonst keinen Grund für die Haft und Anklage erkennen kann: Die Vorwürfe seien „vollkommen konstruiert“, Tolu sei vielmehr als „Geisel von Erdogan“ in Haft. Die türkische Anklage betrachtet Tolu dagegen als staatsfeindliche Aktivistin, die für die verbotene linksextreme Partei MLKP agitierte und dabei auch an Gedenkkundgebungen für Kämpfer aus den Reihen einer syrischen Unterorganisation der kurdischen Terrorgruppe PKK teilnahm.

Zusammen mit Tolu müssen sich die mitangeklagten jungen Türken für ähnliche Vorwürfe verantworten: die Teilnahme an Trauerfeiern für die gefallenen Mitglieder der MLKP im Jahr 2015, die Teilnahme an Kundgebungen aus diesem Spektrum und die Teilnahme an Zusammenstößen mit der Polizei bei einer Mai-Kundgebung. Einer nach dem anderen treten die jungen Leute an das Pult vor dem Richter und verteidigen sich: Sie hätten sich nicht an Krawallen beteiligt, sich nicht vermummt und keine Steine oder Molotow-Cocktails geworfen, sie gehörten keiner verbotenen Gruppierung an und hätten nichts Verbotenes getan.

Tolu beantragt Freispruch und ihre Freilassung

Tolus Verteidigung fällt deutlich offensiver und politscher aus, als die Reihe kurz nach Mittag an ihr ist und sie mit entschlossener Miene ans Pult tritt. Warum aus der Teilnahme an legalen Veranstaltungen im Jahr 2015 jetzt, im Jahr 2017, plötzlich Straftaten geworden seien, fragt sie das Gericht und liefert ihre Antwort mit: Weil es seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr keine demokratischen Rechte und Freiheiten mehr gebe in der Türkei. Vor allem auf die Pressefreiheit habe es die Regierung abgesehen, sagt Tolu. „Es geht hier darum, die sozialistische Presse unter Druck zu setzen.“ Ihre Teilnahme an den Beerdigungen sei von der Gewissensfreiheit gedeckt, ihre Teilnahme an den Kundgebungen von der Meinungsfreiheit, sagt die junge Frau – deshalb beantrage sie Freispruch und ihre Freilassung.

Ob sie damit beim Vorsitzenden Richter Mustafa Cakar Gehör findet, wird sich zeigen. Die Verteidigung äußert schon am Mittwoch erhebliche Zweifel an dessen Unparteilichkeit: Cakar habe im Frühjahr als Haftrichter die Untersuchungshaft für die Angeklagten angeordnet und führe jetzt den Prozess gegen dieselben Beschuldigten, beschweren sich die Anwälte. Das Gericht weist ihren Befangenheitsantrag zurück.

Am Abend wird klar: Tolu muss in Haft bleiben

Am Abend wird bekannt: Mesale Tolu muss weiter in türkischer Untersuchungshaft bleiben. Das Gericht in Silivri bei Istanbul folgte dem Antrag von Tolus Anwälten am Mittwochabend nicht, ihre Mandantin bis zu einem Urteil auf freien Fuß zu setzen. Das Gericht beschloss die Freilassung von acht Angeklagten, sechs weitere müssen in U-Haft bleiben, darunter Tolu. Die acht Beschuldigten, deren Freilassung verfügt wurde, dürfen bis zu einem Urteil das Land nicht verlassen und müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden. Weitere vier der insgesamt 18 Angeklagten waren bereits vor Prozessbeginn unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt worden.

Die stellvertretende Vorsitzende der Linken-Fraktion im Bundestag, Heike Hänsel, kritisierte die Entscheidung des Gerichts als "reinen Willkürakt". Hänsel beobachtete den Prozess im Gefängnis Silivri bei Istanbul. Laut Hänsel begründeten die Verteidiger ihren Vorstoß zur Freilassung von Tolu mit der "dürftigen Beweislage". Dass Tolu nun trotzdem in Untersuchungshaft bleiben muss, sei eine "Machtdemonstration auch gegen Deutschland", sagte Hänsel. Tolu und andere Verhaftete seien "nichts anderes als Geiseln" des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan. Bei allen Angeklagten handele es sich um "ähnlich gelagerte Fälle", bei Tolu sei die Beweislage sogar besonders "dünn".

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