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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) diskutiert mit Lesern der "Freien Presse" in Chemnitz.
© Matthias Schumann/imago/epd

Nach den Ausschreitungen: Merkel in Chemnitz - ein lang erwarteter Besuch

Die Kanzlerin reist drei Monate nach den Ausschreitungen nach Chemnitz. Und muss wieder vor allem ihre Flüchtlingspolitik verteidigen.

Mindestens die Kanzlerin geht mit jenen anderen Bildern von Chemnitz zurück nach Berlin, die sich so viele in der Stadt zu wünschen scheinen: Am Ende von zwei Stunden Debatte mit seinen Leserinnen und Lesern drückt Torsten Kleditzsch, der Chefredakteur der „Freien Presse“, der Kanzlerin einen Bildband über Chemnitz in die Hand. Zwei Nachmittagsstunden lang hat Merkel in der Stadt, die Ende August weltweit Schlagzeilen wegen rechtsextremer Ausschreitungen machte, auf Einladung der Zeitung auf Fragen geantwortet, auf Kritik an ihrer Person und Politik reagiert.

Zu spät, wie ihr kurz zuvor die Oberbürgermeisterin von Chemnitz, Barbara Ludwig (SPD) attestiert? Merkel lässt durchblicken, dass sie schon bald nach den Ereignissen von August – Auslöser war der gewaltsame Tod eines 35-jährigen Deutschkubaners in der Stadt – sowohl mit Ludwig als auch mit Vertretern der Polizei in Sachsen in Verbindung stand. „Ich wollte natürlich kommen“, sagt Merkel. „Aber vielleicht nicht in der ganz aufgewühlten Stimmung, sondern in einer Atmosphäre, in der man sprechen kann.“

Im Format an diesem Freitagnachmittag scheint sie in ihrem Element: Probleme werden praktisch, kleinteilig bewältigt, wie es Kanzlerinnenstil war und ist. Ein örtlicher IT-Dienstleister, der sie fragt, was ihr gegen die verbreitete Unzufriedenheit in seiner Stadt vorschwebe, bekommt er von der Elektrifizierung der einspurigen Bahnstrecke Leipzig-Chemnitz zu hören und vom „Jugend forscht“-Programm.

Eine winzige Gereiztheit

Geduldig beantwortet Merkel auch die ein oder andere Frage mehrmals, etwa die nach dem UN-Migrationspakt oder nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt. Wer genau hinhört, kann bei einem etwas aggressiveren Versuch aus dem Publikum („Wann treten Sie zurück?“) eine winzige Gereiztheit heraushören: Sie sei für eine Legislaturperiode angetreten, als Kanzlerin der stimmenstärksten Partei regiere sie nun: „Das Ergebnis demokratischer Wahlen sollte man akzeptieren.“

Zum Kernthema liefert Merkel, obwohl wach und interessiert, viel Erwartbares: dass Menschenrechte für alle gälten, dass Unrecht – der Tod des jungen Chemnitzers – kein Recht zu anderem Unrecht, Angriffen auf „Andere“, gebe. Dass die Chemnitzer trotzdem stolz auf ihre Stadt sein dürften. Wenn deren Image leide, „müssen Sie, das andere Chemnitz, sich den Schuh doch nicht anziehen“, ruft sie.

Und Merkel kann auch Selbstkritik. Eine Frau aus dem Publikum zeigt sich entsetzt über den viel zitierten Kanzlerinnen-Satz nach der Wahl, sie wisse nicht, was sie hätte besser machen sollen. Gut sei der wohl nicht gewesen, gibt die zu, das habe ihr schon die erste Stimme dazu bei der Rückkehr ins Büro gesagt. Aber der Satz habe sich auf den Wahlkampf bezogen, nicht darauf, dass sie ihre ganze Politik für fehlerfrei halte. Und ja, auch wenn sie versuche, sich überall zu erklären, im Parlament und Bürgern gegenüber: Es sei nun einmal so, „dass ich ein Gesicht habe, das polarisierend wirkt“. Kommunikationsfehler? Ihre Regierung bemühe sich, aber: „Wenn Sie’s nicht erreicht, sind wir noch nicht gut genug.“

Nicht 2015 war falsch

Keinen Zentimeter weicht die Bundeskanzlerin wieder, wenn es um ihre Flüchtlingspolitik geht: Nicht 2015 war falsch, sondern: „Mein Fehler lag vor der Ankunft der Flüchtlinge.“ Sie habe die Menschen erst wahrgenommen, als sie nach Europa kamen, nicht aber, als sie in den Lagern in Jordanien, dem Irak und der Türkei verzweifelten und nach Europa aufbrachen. Dass das nicht mehr vorkomme, daran arbeite sie seit damals. Auch mit dem EU-Türkei-Vertrag, „der mir so um die Ohren gehauen wurde“.

Deshalb sei auch der UN-Migrationspakt so wichtig: Der verpflichte Länder in aller Welt zu Standards, Grenzschutz, der Ausgabe von Dokumenten und ordentlicher Behandlung von Migranten. „Weil wir von Migration besonders betroffen sind, ist der Pakt für uns von elementarem Interesse. Wenn wir immer warten, bis ein Problem uns erreicht, dann wird der Migrationsdruck bleiben.“ Nun würden „Lügen über ihn in die Welt gesetzt“, von denen sie sich aber keine Angst einjagen lasse.

Sagt Merkel und lässt auf Nachfrage durchblicken, dass das die Regierungen täten, die ihn erst „einvernehmlich“ ausgehandelt hätten – bis dann „irgendwann allein das Stichwort Migration für die Befürchtung genügte, dass man auf verlorenem Posten steht“.

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