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Angela Merkel kam am Freitag erstmals seit den Demonstrationen und Ausschreitungen nach Chemnitz.
© Kay Nietfeld/POOL/AFP

Angela Merkel in Chemnitz: Hinwendung und Zuwendung

In Chemnitz hat Angela Merkel zu spät reagiert und auch deshalb Macht verloren. Doch eine Chance bleibt ihr noch. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Chemnitz im August: Ein Mob in den Straßen, Hitlergrüße, Ausländer mit entsetzlicher Angst. Jetzt, im November, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Stadt besucht, sich mit 120 von der Zeitung „Freie Presse“ ausgelosten Chemnitzern zum Bürgerdialog getroffen. Zu spät?

Auf jeden Fall. 82 Tage danach – was lang klingt, ist es auch in der Lebenswirklichkeit von Menschen. Zumal wenn sie sich ohnehin nicht genügend wertgeschätzt fühlen. Oder anders: nicht so recht wahrgenommen fühlen. 28 Jahre nach der Einheit sind die Verhältnisse immer noch nicht angeglichen an den Westen. Dabei sollte die grundstürzende Veränderung im Osten doch längst überwunden sein.

Wenig ist schlimmer als eine enttäuschte Hoffnung. Die zum Beispiel, dass es eine Vereinigung unter Gleichen werden würde. Dass die Ostdeutschen von Beginn an gleiche Chancen hätten wie die Westdeutschen, sich und ihre Auffassungen vom Wandel durchzusetzen. Doch diejenigen, die im Osten das Sagen haben, gleich wo, sind zuallermeist aus dem Westen. Noch heute. So ist das Unterlegenheitsgefühl, ohnedies latent vorhanden seit dem „Beitritt“, nicht geringer geworden, eher im Gegenteil. Nur äußert es sich zunehmend aggressiver.

Ja, die Bundesfamilienministerin war in Chemnitz, der Bundespräsident auch – allein die Chefin der operativen Politik, die Bundeskanzlerin, hat gefühlt ewig auf sich warten lassen. Ausgerechnet Merkel, von der die Menschen doch denken, dass sie die Macht hat, die Dinge in ihrem Sinn zu lenken. Und ist sie nicht auch Ostdeutsche?

Die Integration darf auf keiner Seite Verlierer hinterlassen

Dass die Kanzlerin so lange gebraucht hat, ehe sie Zeit für ihre Landsleute fand, ist mit den Weltläufen nicht ausreichend zu erklären. Jedenfalls glaubt das keiner mehr. Deshalb ist es als Verweigerung gewertet worden, sich dem Dialog zu stellen und auf diese Weise mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Was wiederum nicht nur innerhalb der Regierungskoalition ihre Position geschwächt hat – es kostet sie auch Macht.

Ja, zu spät. Den CDU-Vorsitz hat Merkel schon verloren, und damit die Machtgrundlage ihrer 13 Jahre als Kanzlerin. Darauf konnte sie sich immer verlassen: Bei der CDU ist das Merkmal Kanzlerwahlpartei Teil ihres genetischen Codes. Die Macht als Regierungschefin wird daher nun mit der Zeit vergehen.

Das hätte sie verhindern können. Vor 82 Tagen – und lange davor. Ihre Flüchtlingspolitik, aus einem zutiefst humanitären Impuls heraus entstanden, brauchte seither europäische und nationale Grundierung und zugleich Erklärung. Die Dimension des Geschehens und seiner Folgen ist allerdings immer noch so groß und die Integration eine Generationenaufgabe, dass es trotz Merkels Fehler in Kommunikation und Steuerung noch die Gelegenheit gibt, die Anstrengungen den Erfordernissen anzupassen, finanziell, ideell.

Die Wahrheit ist konkret, pflegt Merkel zu sagen. Umgekehrt gilt auch, dass Konkretes wahr werden muss. Die Integration darf auf keiner Seite Verlierer hinterlassen. Menschen und Regionen werden dann mittun, wenn sie an einer Art Sozialpakt teilhaben: Hinwendung und Zuwendung erleichtern den Aufbruch. Übrigens in Ost wie in West.

Die Kanzlerin hat jetzt endlich Worte gefunden. Diese Chance bleibt ihr: Für Taten ist es nicht zu spät.

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