Brexit-Abkommen mit der EU: May will nur bei "ausreichender Unterstützung" abstimmen lassen
Die EU gewährt Großbritannien einen Brexit-Aufschub, doch das Risiko eines ungeregelten Austritts bleibt hoch. Kanzlerin Merkel sorgt sich um die Europawahl.
Nach der zweiwöchigen Verschiebung des Brexits beim EU-Gipfel in Brüssel geht das Drama um den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union in London weiter. Jetzt ist das britische Parlament wieder am Zug. „Das Schicksal des Brexits liegt in den Händen unserer britischen Freunde“, sagte EU-Ratschef Donald Tusk zum Gipfelabschluss. „Wir sind auf das Schlechteste vorbereitet, aber hoffen das Beste. Wie Sie wissen: Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Premierministerin Theresa May reiste am Freitag vorzeitig aus Brüssel ab, um bei den Unterhaus-Abgeordneten dafür zu werben, das Austrittsabkommen doch noch zu billigen. Die Chancen dafür stehen allerdings schlecht. Die Gefahr eines Chaos-Brexits ohne jegliches Partnerschaftsabkommen hat der Gipfel nicht vermindert.
Allerdings steht fest: In der nächsten Woche wird es noch nicht dazu kommen. Das eigentlich geplante Austrittsdatum 29. März ist Geschichte. Darauf verständigten sich die Staats- und Regierungschefs in der Nacht zum Freitag nach achtstündigem Ringen. May will nun in der nächsten Woche dem Unterhaus das bereits zwei Mal abgelehnte Austrittsabkommen ein drittes Mal zur Abstimmung vorlegen.
Sollte das Parlament zustimmen, tritt Großbritannien am 22. Mai in geordneter Weise aus der EU aus, bleibt aber enger Partner der Staatengemeinschaft. Gibt es ein drittes Nein, muss Großbritannien bis zum 12. April erklären, wie es weitergehen soll - und die anderen EU-Länder müssten diesem Plan dann zustimmen. Denkbar wäre eine Verschiebung um mehrere Monate, verknüpft zum Beispiel mit einer Neuwahl in Großbritannien oder einem zweiten Brexit-Referendum.
Allerdings will May das Abkommen nur dann erneut zur Vorlage bringen, wenn sich eine "ausreichende Unterstützung" abzeichne, schrieb May am Freitag in einem Brief an die Abgeordneten. Sollte der Vertrag keinen ausreichenden Rückhalt finden, könne Großbritannien in Brüssel einen weiteren Aufschub des EU-Austritts beantragen. Dann müsste das Vereinigte Königreich allerdings an den Europawahlen im Mai teilnehmen. May ist nach eigenen Worten "zutiefst davon überzeugt", dass dieser Schritt "falsch" wäre.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellt sich darauf ein, dass es dann einen EU-Sondergipfel geben wird, auf dem neu entschieden wird. „Wir werden uns dann vor diesem Termin natürlich noch einmal treffen, sicherlich auch in Anwesenheit der britischen Premierministerin“, sagte sie. Merkel machte zugleich erneut klar, dass es keinen Spielraum für eine Änderung des mit May ausgehandelten Brexit-Deals gibt. „Auch nicht in den nächsten Tagen“, betonte sie. Der Aufschub beim Brexit dürfe zudem nicht die Europawahl gefährden. Es brauche Rechtssicherheit, die Wahl dürfe nicht anfechtbar sein, sagte Merkel.
Britische Medien stufen die Chancen auf Zustimmung zum Austrittsabkommen als gering ein und spekulieren bereits über einen möglichen Rücktritt Mays in den nächsten Wochen oder Monaten. Unklar ist noch, wann im Parlament zum dritten Mal abgestimmt wird. Als möglicher Termin gilt der Dienstag, eventuell könnte es aber auch etwas später werden. Zunächst einmal wird am Montag über das weitere Vorgehen debattiert. Am Mittwoch oder Donnerstag muss die Regierung das EU-Austrittsgesetz verändern, dort ist noch der 29. März als Austrittsdatum festgeschrieben.
„Sehr intensiver, aber auch sehr erfolgreicher Abend“
Die Verärgerung der Abgeordneten über May nimmt in London zu: Die Premierministerin hatte in einer Rede am Mittwochabend ausdrücklich das Parlament für die Verzögerung des EU-Austritts verantwortlich gemacht. „Die Abgeordneten waren unfähig, sich auf einen Weg für die Umsetzung des Austritts des Vereinigten Königreichs zu einigen“, sagte sie. Britischen Medien zufolge haben sich seitdem weitere Parlamentarier von ihr abgewandt. May muss die Brexit-Hardliner in ihrer eigenen Konservativen Partei, Unentschlossene in der oppositionellen Labour-Partei und die nordirische DUP, auf deren Stimmen ihre Minderheitsregierung angewiesen ist, von ihrem Vorhaben überzeugen. „Ich hoffe, wir sind uns alle einig, dass wir jetzt am Punkt der Entscheidung sind“, sagte May vor ihrer Rückreise nach London.
Die Staats- und Regierungschefs der anderen 27 EU-Mitglieder zeigten sich nach dem Brexit-Gipfelbeschluss überwiegend erleichtert. Es sei ein „sehr intensiver, aber auch sehr erfolgreicher Abend“ gewesen, sagte Merkel. May wollte eigentlich einen Aufschub bis zum 30. Juni erreichen. Doch die EU sah die Europawahl vom 23. bis 26. Mai als entscheidende Hürde. Der zweistufige EU-Beschluss zur Verschiebung orientiert sich an diesem Datum: Der 22. Mai ist der letzte Tag vor der Wahl. Der 12. April ist der Tag, an dem Großbritannien spätestens entscheiden müsste, ob es an der Europawahl teilnimmt. Wollte es noch einige Monate EU-Mitglied bleiben, müsste es an der Wahl teilnehmen.
Der Austrittsvertrag wird so wichtig genommen, weil er auf knapp 600 Seiten fast alle rechtlichen Fragen der Trennung regelt, darunter Aufenthaltsrechte der 3,5 Millionen EU-Bürger in Großbritannien, die britischen Schlusszahlungen an die EU und die Frage, wie die Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Staat Irland offen bleiben kann. Fällt das alles weg, herrscht rechtliche Unsicherheit. Zudem müssten Zölle erhoben und die Grenzen kontrolliert werden.
Demo für zweites Referendum: „Wir erwarten bis zu 700.000 Teilnehmer“
Die Proteste gegen den Brexit in Großbritannien nehmen unterdessen zu. Mit einer großen Demonstration will die Kampagne „People's Vote“ an diesem Samstag in London für ein zweites Brexit-Referendum demonstrieren. „Wir erwarten bis zu 700.000 Teilnehmer“, sagte ein Sprecher der Kampagne. Mehr als drei Millionen Menschen unterzeichneten eine Online-Petition für einen Verbleib in der EU.
Angesichts des Ringens um den Brexit gerieten beim Brüsseler Gipfel andere Themen in den Hintergrund. Dazu zählte der Umgang mit dem Machtstreben Chinas, die gemeinsamen Industrie- und Wettbewerbspolitik oder der Klimaschutz. „China ist ein Wettbewerber, ein Partner und ein Rivale“, sagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Beschlüsse zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt gab es am Ende - von einem Verweis auf den EU-China-Gipfel am 9. April in Brüssel abgesehen - zwar nicht. Aber die gemeinsame Industriepolitik ist damit eng verbunden.
Deutschland und Frankreich wollen die Schaffung „Europäischer Champions“ erleichtern, die im globalen Wettbewerb bestehen könnten. Im Gipfelpapier heißt es nun vage, fairer Wettbewerb innerhalb der EU und weltweit müsse gewährleistet werden, um Verbraucher zu schützen und Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Das EU-Regelwerk müsse jedoch an neue technologische Entwicklung und Veränderungen im Weltmarkt angepasst werden. Bis Ende 2019 soll die EU-Kommission zudem eine langfristige Industriestrategie verlegen. Zudem solle die Behörde einen Vorschlag machen, wie das 5-G-Netz für superschnelle Datenübertragung geschützt werden könnte. (dpa)