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Premierministerin Theresa May im britischen Parlament.
© REUTERS

Tragische Figur beim Brexit: May hat Großbritannien zur Parodie gemacht

Die britische Premierministerin hat den Brexit fast zum sakralen Ziel erklärt. Das Verfassungschaos ist ihre Schuld. Ein Gastbeitrag.

Roger Boyes ist ein britischer Journalist und Buchautor. Von 1993 bis ins Jahr 2010 berichtete er als Korrespondent der britischen Tageszeitung The Times aus Deutschland. Er veröffentlichte die Bücher "My dear Krauts" und "How to be a Kraut". Für den Tagesspiegel schrieb Boyes die Kolumne „My Berlin“.

Die Kirchengeschichte kennt mindestens zwei heilige Theresas – aber keine der beiden kann von sich behaupten, die Märtyrerin des Brexits zu sein. Diese Rolle fällt nun Theresa May zu, es ist ihr Vermächtnis: Die Pfarrerstochter hat in einer letzten verzweifelten Geste angeboten, zurückzutreten, wenn ihre Fraktion das von ihr mit der Europäischen Union ausgehandelte Austrittsabkommen unterstützt. Es ist eine vermeintlich selbstlose Geste, die den Brexit zu einem beinahe sakralen Ziel erklärt, ein Ziel, das größer ist als ihre politische Karriere. Und wie so viele der Schritte, die sie in den letzten zwei Jahren unternommen hat, beruht auch dieser auf einer groben Fehleinschätzung. Die Geschichte wird sich an May als eine glücklose Politikerin erinnern, die ihr Land durch Inkompetenz und Ungeschicklichkeit an den Abgrund geführt hat.

Als ich 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union stimmte, betrachtete ich das, naiv wie ich war, als eine romantische Entscheidung. Ich wollte in einem Land leben, das sich einer Welt öffnen würde, die sich schnell veränderte; das die Faulheit abschütteln würde, die es sich in einer bequemen, aber letztlich erstickenden Euro-Bürokratie angewöhnt hatte. Es gab viele Dinge, die mit Großbritannien nicht stimmten; das Land brauchte einen Weckruf. Einen Großteil meiner beruflichen Laufbahn lang hatte ich über nationale Bewegungen berichtet und sie unterstützt. Nun war Großbritannien an der Reihe. Es dauerte aber nicht lange, bis ich erkannte, dass ich mich mit einem ziemlich undefinierbaren wütenden Mob gemein gemacht hatte: Menschen, die sich von der globalen Elite verraten fühlten, die sich über Einwanderer ärgerten und deren Ziel es keineswegs war, das Land für eine faszinierende Zukunft flink und agil zu machen, sondern es in ein weitgehend imaginäres „Goldenes Zeitalter“ zurückzuführen.

Vergifteter Kelch für Theresa May

Die Leavers gewannen mit einem überzeugenden, aber immer noch knappen Vorsprung von 52 gegen 48 Prozent. Die politische Klasse hatte nun eine klare Aufgabe: zu analysieren, warum so viele Briten mit dem Status quo unzufrieden waren und eine gespaltene Nation auf eine neue Vorstellung von Großbritanniens Rolle in Europa zu vereinen. Nach dem Referendum wären wahre Staatsmänner und Staatsfrauen gefragt gewesen, eine Führung von Format. Stattdessen stürzte ein zutiefst erleichterter David Cameron aus seinem Büro und übergab den vergifteten Kelch an Theresa May. Ihre Antwort war es, das Ergebnis des Referendums als Dogma, als den Volkswillen, zu behandeln -und nicht als den Beginn eines offenen Gesprächs zwischen dem großstädtischen, wohlhabenden London und den vernachlässigten Provinzen. Brexit heißt Brexit, tönte sie.

Das Ergebnis: eine Kaskade von Krisen. Das Vereinigte Königreich war kein vereintes mehr, nicht nur in Bezug auf die karikaturhaften Pro-Europa- und Anti-Europa-Linien, sondern auch in Bezug auf die Frage der nationalen Identität. Schottland wollte aus dem Vereinigten Königreich ausbrechen und sah den Verbleib in der EU als den einzigen Weg zu eigener nationaler Unabhängigkeit. Was heißt das überhaupt noch: britisch? Zu der Identitätskrise kam ein zunehmend dysfunktionales politisches System. Wie kann die Komplexität einer modernen Gesellschaft durch ein Mehrheitswahlsystem artikuliert werden? Die Parteien fangen schon an, sich zu spalten. Das Parlament, einst ein stolzer Teil der Marke Großbritannien, ist heute in Stammeskulturen gespalten.

May hat es versäumt, diese Fragen anzugehen und die Folgen des Referendums zu gestalten, statt das Ergebnis als wörtlichen Befehl zu verstehen. Sie hat die Verwirrung derart eskalieren lassen, dass Kritiker innerhalb und außerhalb Großbritanniens sich heute fragen, ob das Land überhaupt noch regierbar ist. Das britische Verfassungschaos ist Mays schuld. Das Kräftemessen von Parlament und Exekutive - in normalen Zeiten ein Zeichen einer lebendigen Demokratie – hat sich in ein vergiftetes Verhältnis gewandelt.

Tragik ist Theresa May deutlich anzusehen

Die Führung zu übernehmen ohne zu sehen, dass sich die Anforderungen an Führung geändert haben: das sind die Zutaten einer Shakespeare‘schen Tragödie, und die Tragik ist Theresa May deutlich anzusehen. Sie duckt sich als würde sie gegen einen Sturm anlaufen. Ihr Gesicht ist hinter ihrem Make-up so blass, dass man sich instinktiv nach einem Arzt umsieht. Als Premierministerin, die keine Kontrolle mehr über ihren Zeitplan hat, sieht sie sowohl physisch als auch politisch verletzlich aus. Ihre Stimme ist brüchig; ihr Körper sieht kraftlos aus, wie sie da in der ersten Reihe des Parlaments sitzt: eine Physiognomie des Niedergangs.

In der vergangenen Woche stand sie unter Adrenalin und ihre Leistung war etwas besser. Im randvollen, verschwitzten Unterhausausschuss in Raum 14 am Mittwoch war sie knackig und effizient, als sie sich an die konservativen Hinterbänkler wandte. Es war ihr letzter großer Wurf, und sie hatte ihre Worte offensichtlich sorgfältig einstudiert. Nachdem sie im vergangenen Dezember ein Misstrauensvotum ihrer eigenen Partei überlebt hatte, ist sie theoretisch bis Dezember 2019 sicher. Aber das Gerede von einem sich anbahnenden Putsch im Kabinett hatte sie gezwungen, sich den Abgeordneten zu stellen. Wenn die Partei wirklich will, dass sie abtritt, dann soll es so sein - unter der Bedingung, dass sich die Tories bereit erklärten, ihr Austrittsabkommen mit der EU zu unterstützen. Sie war bereit, in ihr Schwert zu fallen. Die zweite Phase der Verhandlungen mit Brüssel - über die künftigen Handelsbeziehungen Großbritanniens zu Europa - würde dann von einem neuen Anführer übernommen werden.

Zynischer Pakt

Die Wirkung setzte beinahe sofort ein. Boris Johnson, der erst Wochen zuvor die EU beschuldigt hatte, den Austrittsvertrag genutzt zu haben, um Großbritannien einen Bombengürtel anzulegen, entschied plötzlich, dass er ihn unterstützen würde. Denn natürlich sieht er sich selbst als den nächsten Premierminister und den nächsten Vorsitzenden der konservativen Partei. In der britischen Politik gibt es nur noch eine Gewissheit: nämlich die, dass der Opportunismus siegen wird. Es ist eine Art Dekadenz, die es erfordert, dass die Ko-Architektin eines Deals zurücktritt, damit ihre eigene Partei ihn unterstützen kann. May glaubt, dass sie, sobald ihr Deal durch das Parlament gegangen ist, ihrer Verpflichtung gegenüber dem britischen Volk nachgekommen sein wird und sie von ihrer moralischen Pflicht entbunden ist, den Schaden des Brexits zu begrenzen. Boris Johnson unterstützt den Deal nun nicht nur, weil er ihn als Schlüssel zum Amt des Premierministers sieht, sondern auch, weil er beabsichtigt, den Vertrag sofort zu zerreißen, sobald er in die Downing Street gezogen ist. Zwischen Theresa und Boris gibt es einen zynischen Pakt. Dessen Hauptziel es ist, die konservative Partei zusammenzuhalten.

Wie bei Angela Merkel ist auch bei Theresa May viel in ihre Kindheit als Tochter eines Pfarrers hineingelesen worden. Das so genannte „Silent Saturday Syndrom“, die besondere Stille, die ein Pfarrhaus umgibt, wenn Vater an seiner Predigt arbeitet. Das Gefühl der Andersartigkeit in der Schule, die Anstrengung, andere nicht so zu beurteilen, wie man selbst zu Hause immer beurteilt wurde. May hat nur wenige Freunde. Ihr Mann Philip ist ihr engster Berater; er taucht oft auf der Besuchertribüne des Parlaments auf und liest die Entwürfe ihrer Reden.

May ist keine echte Politikerin

Aber ihre schwerwiegendster Fehler - die vorschnelle Aktivierung von Artikel 50 unter dem anhaltenden Druck der Europäische Kommission – war eine unnötige Entscheidung, die ihr die Mehrheit entzog. Und es war ihre eigene. Ihr Grundgedanke – nämlich, dass ihre Partei und das Land sie immer unterstützen würden, anstatt eine linke Regierung unter Jeremy Corbyn zu riskieren - war schlicht falsch. Sie ist eine Sicherheitsexpertin, die sich mit technischen Fragen der Einwanderung, Kriminalität und Grenzkontrollen auskennt, und keine echte Politikerin.  Ihr Team stellte jemanden ein, der Witze für ihre Reden schrieb, aber oft vermasselte sie das Timing, weil sie die Witze nicht verstand.  Zunehmend hat sie in diesen vergangenen Krisenmonaten Tory-blaue Kleider, Mäntel und edle Perlen getragen, um zu zeigen: Die Partei geht vor. Margaret Thatcher tat das Gleiche und wie May stürzte sie über die tiefe Spaltung ihrer Partei in Bezug auf Europa.

Theresa May leidet unter einem Tunnelblick. Weil sie vor zwei Jahren nicht begriff, dass ein Konsens zwischen den Parteien nötig gewesen wäre, hat sie die Politik zu einer Farce gemacht, Großbritannien zu einer Parodie seiner selbst. Ich gebe ihr die Schuld - und einer politischen Kultur, in der es als clever galt, eine schwache Politikerin mit einem unlösbaren Problem zu beauftragen. Vor allem aber gebe ich mir die Schuld, dass ich mit dem Herzen und nicht mit dem Kopf abgestimmt habe. Ich beabsichtige nicht, diesen Fehler zu wiederholen.

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