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In Ecuador gab es schwere Zusammenstöße Demonstranten und Sicherheitskräften.
© Martin Bernetti/AFP

Von Venezuela bis Argentinien: Massenproteste, Gewalt, Tote – was ist los in Südamerika?

Die Nachrichten aus Südamerika beunruhigen die Welt. Die Länder sind weit weg. Aber die dortigen Krisen fordern auch Europa heraus. Acht Staaten im Überblick.

Gebannt haben viele Menschen in den vergangenen Wochen nach Südamerika geschaut. Da war erst der Schock über die Zehntausenden Feuer im Amazonaswald. Da ist der seit Monaten andauernde Exodus aus dem sozialistischen Venezuela. Millionen flüchten, weil es in der Ölnation schlicht nichts mehr zu essen gibt.

Im Oktober strömten Hunderttausende Ecuadorianer gegen eine Erhöhung der Benzinpreise auf die Straße. Die Proteste waren so heftig, dass Präsident Lenin Moreno sein Vorhaben zurückzog. Parallel brachen Massenproteste in Chile aus. Millionen forderten ein Ende der sozialen Ungerechtigkeit. Dabei galt Chile bislang als stabilste Nation Lateinamerikas. Schließlich versprach Präsident Sebastian Piñera Reformen. Es war der zweite Sieg der Demonstranten in Südamerika binnen weniger Tage.

Als dann am vergangenen Sonntag in Argentinien die linken Peronisten fulminant zurück an die Macht kamen und zeitgleich in Bolivien Proteste gegen die Wahlfälschung des Sozialisten Evo Morales das Land zerrissen, war klar: In Südamerika geschieht Historisches.

Die Region steht vor zwei existentiellen Fragen: Schafft sie es endlich, Wirtschaftswachstum mit sozialem Ausgleich zu verbinden? Und: Ist die Demokratie am Ende stark genug, um autoritäre Herrscher zu überwinden?

Die aktuellen Daten sehen nicht gut aus. Seit 1995 war das Vertrauen in die Demokratie laut dem Forschungsinstitut Latinobarometro noch nie geringer. Die Menschen sind wütend über eine abgehobene Elite, Korruption und enttäuschte Wohlstandsversprechen.

All das ist auch für Europa wichtig. Die Bundesregierung sowie deutsche Firmen setzen derzeit große Hoffnungen auf eine Belebung der Wirtschaftsbeziehungen zu Südamerika. Dahinter steckt die Absicht, die Region nicht vollends den Chinesen zu überlassen, die mit Milliardeninvestitionen und Krediten verschiedene Länder in ihren Orbit holen.

Vor diesem Hintergrund ist auch das Freihandelsabkommen zu sehen, das die EU mit dem südamerikanischen Wirtschaftsblock Mercosur beschlossen hat. Es könnte allerdings schon bald floppen. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro denkt über einen Mercosur-Austritt nach und ist von den EU-Umweltauflagen genervt. Argentiniens neue Regierung wiederum lehnt den Freihandel ab. Die Europäer ihrerseits müssen sich fragen, ob sie Rinder aus Brasilien essen wollen, für die Indios vertrieben und Urwälder gerodet wurden? Südamerika steht an einem Scheideweg. Es ist unklar, wohin die Reise geht.

ARGENTINIEN – IN DER SCHULDENFALLE

Man muss es schon positiv werten, dass Argentinien gerade einen reibungslosen Regierungswechsel erlebt. Vergangenen Sonntag wählten die Argentinier den linken Peronisten Alberto Fernández zum Präsidenten. Er schlug den konservativen Amtsinhaber Mauricio Macri. Dessen ökonomisches Liberalisierungsprogramm hatte Argentinien nicht wie versprochen aus der Wirtschaftskrise geführt, sondern sie verschärft. Die Folgen: Inflation und Armut. Dementsprechend aufgeheizt und giftig war der Wahlkampf.

Dennoch gratulierte Macri seinem Nachfolger Fernández und lud ihn zum Kaffee ein. So sollte es eigentlich in Demokratien sein, aber im polarisierten Südamerika ist nichts mehr selbstverständlich. Als Macri etwa 2015 Cristina Kirchner ablöste, weigerte sie sich, ihm zu gratulieren. Kirchner, ein linkes Schreckgespenst für Argentiniens Rechte, kommt nun als Vize-Präsidentin wieder an die Macht.

Wider Erwarten reagierten die Märkte recht gelassen auf den Sieg von Fernández. Es war mit einem weiteren Absturz des Pesos gerechnet worden, der aber nicht kam. Sogar die neue Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgieva, wünschte Fernández alles Gute.

Cristina Fernandez de Kirchner und Wahlsieger Alberto Fernandez.
Cristina Fernandez de Kirchner und Wahlsieger Alberto Fernandez.
© Daniel Jayo/AP/dpa

Die beiden werden schon bald über den Kredit von 57 Milliarden US-Dollar verhandeln müssen, den der IWF Argentinien unter harten Sparauflagen gewährt hat. Denn Fernández wird sich kaum an die Sparforderungen halten wollen. Er hat Investitionen, Hilfe für die Armen sowie ein Ende des Neoliberalismus versprochen. Wie er diese Vorhaben mit einem leeren Staatshaushalt umsetzen will, ist allerdings ein Rätsel.

Mit seiner ersten Auslandsreise setzt Fernández gleich ein Zeichen. Nicht zum wichtigsten Handelspartner Brasilien wird es gehen, sondern nach Mexiko. Dort wird er mit dem linken Präsidenten Andres Manuel López Obrador sprechen. Wenige Tage später wird Fernández dann in Buenos Aires das zweite Treffen der Puebla-Gruppe eröffnen, einem Bündnis progressiver Kräfte, dessen Protagonisten die linken Staatschefs der Nullerjahre sind.

BRASILIEN – GROSS UND KRISENGESCHÜTTELT

Das Video zeigt einen Löwen. Er soll Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro darstellen. Er wird eingekreist von Hyänen, die ihn attackieren. Den Hyänen hat jemand Etiketten zugeordnet, darunter die Akronyme brasilianischer Parteien und Gewerkschaften. Auch Greenpeace, die Vereinten Nationen, TV-Stationen, der Feminismus und der Oberste Gerichtshof Brasiliens sollen Hyänen sein.

Das geht so lange, bis ein zweiter Löwe auftaucht, ein „konservativer Patriot“, der dem Bolsonaro-Löwen beisteht. Bolsonaro hat das Video im Internet gepostet, es gibt seine Sicht der Welt ziemlich gut wieder: Während er einsam für Brasilien kämpft, wird er von allen Seiten feige angegriffen.

Seit 1. Januar regiert dieser Mann das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land Lateinamerikas. Seine Wahl war die Folge von vier Krisen: eine Wirtschaftskrise; eine Krise des politischen Systems wegen zahlreicher Korruptionsfälle; eine gesellschaftliche Krise aufgrund epidemischer Gewalt (64.000 Morde 2017); eine Krise der Medien, weil immer mehr Brasilianer Facebook & Co als Informationsquellen nutzen.

Brasiliens umstrittener Präsident Jair Bolsonaro.
Brasiliens umstrittener Präsident Jair Bolsonaro.
© AFP

Bolsonaro hat zwei große Versprechen gemacht: eine konservative Restauration sowie die Ankurbelung der Wirtschaft durch Privatisierungen, Bürokratieabbau und ausländische Investitionen. Letzteres gelingt bislang nur schleppend, weil die Regierung für jede Reform eine Mehrheit im Kongress mit rund 30 Parteien organisieren muss. Dennoch herrscht in der Wirtschaft vorsichtiger Optimismus, dass Brasiliens verschlossene Ökonomie dynamischer wird. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt leicht – aktuell liegt die Quote bei 11,7 Prozent.

Als großen Erfolg feiert Bolsonaro nun bereits das Versprechen Saudi Arabiens, zehn Milliarden Dollar in Brasilien zu investieren. Die Saudis könnten damit China Konkurrenz machen, Brasiliens wichtigstem Handelspartner. Sollte die Wirtschaft wieder anspringen, könnte dies Bolsonaros schlimme Fehler auf anderen Gebieten vergessen machen.

Bisher ist seine Amtszeit geprägt von einer katastrophalen Umweltpolitik, die auch viele Brasilianer ablehnen. So hat Bolsonaro den Umweltbehörden Gelder und Kompetenzen gestrichen. Die Folge: Die Abholzung des Amazonaswaldes hat sich stark beschleunigt. Für Bolsonaro ist das kein Problem, er sagt, er werde den Dschungel ohnehin zur Ausbeutung freigeben. Ein Effekt der Abholzungen waren Zehntausende Waldbrände. Aktuell brennt es stark im Pantanal, dem größten Feuchtgebiet der Erde. Dort haben die Feuer dieses Jahr im Vergleich zu 2018 um 462 Prozent zugenommen.

Derzeit hat Brasilien mit einer schleichenden Ölpest zu kämpfen. Im Nordosten wird seit zwei Monaten Öl an die Küsten geschwemmt. Aber Bolsonaro scheint unwillig zu sein, dem Desaster etwas entgegenzusetzen. Böse Zungen sagen, er wolle sich am „roten“ Nordosten rächen, wo er bei den Wahlen keine Mehrheit erhielt. Das Schlimmste an dem Gerücht: Es könnte wahr sein. Für den Fall übrigens, dass es in Brasilien Proteste wie in Chile geben sollte, hat Bolsonaro bereits gewarnt: „Die Streitkräfte sind vorbereitet!“

CHILE – NUR FÜR REICHE

Wie ernst die Lage in Chile ist, wird daran deutlich, dass Präsident Sebastian Piñera nun gleich zwei internationale Gipfel in der Hauptstadt Santiago abgesagt hat: das Treffen des Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforums (Apec) und den UN-Klimagipfel Anfang Dezember. Der Grund für die Absagen: die Massenproteste, die Chile seit zwei Wochen lahm legen. Sie enden häufig in Gewalt, wofür auch die Polizei und das Militär verantwortlich sind. Offiziell gibt es bislang rund 20 Tote und Hunderte Verletzte, auch durch den Schusswaffengebrauch der Sicherheitskräfte.

Die Demonstrationen begannen Mitte Oktober als die Metro-Preise in Santiago um umgerechnet drei Cent erhöht werden sollten. Sie wuchsen dann schnell zu Protesten mit mehr als einer Millionen Menschen gegen die generelle soziale Lage an. Chile ist heute das Land in der OECD mit der ungerechtesten Verteilung von Einkommen und Wohlstand.

Auseinandersetzungen auf der Straße in Chile.
Auseinandersetzungen auf der Straße in Chile.
© Javier Torres/AFP

Lange galt es zwar als die wirtschaftliche Vorzeigenation Lateinamerikas mit stabilen politischen Verhältnissen; und häufig wurde es als geglücktes Beispiel für neoliberale Rezepte herangezogen, also umfassende Privatisierungen und ein Rückzug des Staats sogar aus Bereichen wie Bildung und Gesundheit. Aber die nackten Wirtschaftsdaten verbargen die Lebensrealität eines Großteils der Bevölkerung, für die vieles unerschwinglich wurde. Chiles Wirtschaft funktionierte gut – für die Reichen.

Deswegen reicht es vielen Demonstranten nun auch nicht, dass Präsident Piñera einen Großteil seines Kabinetts entlassen hat und soziale Verbesserungen ankündigt. Sie fordern eine Reform der Verfassung, die noch aus der Pinochet-Diktatur stammt. Die Proteste in Chile unterscheiden sich damit von den Ereignissen in Ecuador, Bolivien und Argentinien. Es geht nicht nur um einen Regierungswechsel, sondern um ein anderes System.

BOLIVIEN – STERBENDE DEMOKRATIE

Evo Morales hat ein großes Ziel: 2025, zum 200-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit vom spanischen Kolonialreich, noch Präsident Boliviens zu sein. Doch jetzt hat der Sozialist überzogen. Erst verlor er 2016 das Referendum, das ihm eine von der Verfassung untersagte nochmalige Kandidatur ermöglichen sollte, dann urteilte das mit Morales gewogenen Richtern besetzte Verfassungsgericht, er darf doch nochmal antreten.

Dann drohte nach der Wahl vom 20. Oktober eine Stichwahl, in der er gegen den gemäßigten Carlos Mesa verlieren könnte, da andere unterlegene Kandidaten ihn unterstützen. Die Auszählung wurde gestoppt, Gerüchte über auftauchende Urnen mit Evo-Stimmzetteln machten die Runde. Dann verkündete das Oberste Wahlgericht: Sieg für Morales in Runde eins. Seither ist das Land in Aufruhr.

Wo Morales der armen, indigenen Bevölkerung eine nie gekannte Wertschätzung zuteil werden ließ, droht nun eine Spaltung, da gerade die reicheren Regionen gegen ihn mobil machen. Der Demokratieforscher Yascha Mounk von der Harvard-Universität führt Bolivien als aktuelles Beispiel für eine sterbende Demokratie an, nach und nach werden Schlüsselpositionen mit Getreuen besetzt und Regeln außer Kraft gesetzt.

Boliviens Präsident Evo Morales.
Boliviens Präsident Evo Morales.
© Diego Valero/ABI/dpa

Zweifelsohne, der erste indigene Präsident hat dem Land seit 2006 viel Gutes gebracht: Die Armutsrate verringerte sich laut Weltbank von 60 auf 35 Prozent. Das Wachstum betrug auch dank des Erdgasexports bis zu 6,8 Prozent. Statt alles zu verstaatlichen, ging er Partnerschaften mit ausländischen Investoren ein – deutsche Unternehmen setzen auf einen Zugang zu den weltgrößten Lithiumvorkommen. Es gibt neue Straßen, Flughäfen und Internet, dazu zwischen La Paz und höher gelegenen Metropole El Alto das größte urbane Seilbahnnetz der Welt. Ein klimafreundlicher Zeitgewinn für hunderttausende Menschen, die sonst im Stau standen.

Aber Morales Stil wurde autoritärer und selbstherrlicher. Die Lehmhütte, in der er 1959 im kargen Hochland geboren wurde, lässt sich heute noch besichtigen. Ein paar hundert Meter weiter steht ein monumentaler Bau, das Evo-Museum der „demokratischen und kulturellen Revolution“.

Mehr als sieben Millionen Dollar teuer, bei der Einweihung weinte Morales, gehüllt in indigene Tracht. Es ist sein Denkmal. Das andere ist ein Protzbau an der kolonialen Plaza Murillo in La Paz. Die Casa Grande del Pueblo, das große Haus des Volkes, ist sein neuer Präsidentenpalast, mit 120 Metern eines der höchsten Häuser Boliviens. Wie sagt er: „Ich bin verheiratet mit Bolivien.“ Doch die große Liebe ist erkaltet.

KOLUMBIEN – CHANCEN UND RISIKEN

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Kolumbien eines Tages als Hort relativer Stabilität in Südamerika gelten würde. Jahrzehntelang wurde das Land vom Krieg zwischen der linken Farc- Guerilla, dem Militär sowie rechten Paramilitärs zerrissen. Außerdem erlebte es den Aufstieg von Drogenkartellen, die den Staat unterminierten. Ende der 90er Jahre galt Kolumbien als „failed state“.

Die Wende kam 2016 mit dem Friedensschluss. Seitdem ist Kolumbien auf dem Weg zu einer Normalisierung. Die Konfliktforscherin Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut lobt das Abkommen sogar als „das umfassendste der Welt“. Die Gefahr eines Rückfalls in den Krieg bestehe derzeit nicht, auch wenn vielerorts Paramilitärs, die Mafia sowie die kleine ELN-Guerilla in das Vakuum vorstießen, das die Farc hinterlassen haben.

Tatsächlich muss man von einer zweigeteilten Entwicklung sprechen: Während in armen und abgelegenen Regionen die Landkonflikte weiter ungelöst sind und es wöchentlich zu Morden an Führern sozialer Bewegungen kommt, entwickeln sich die städtischen Räume stark. Medellin will IT-Kapitale werden, investiert in Ausbildung und Entwicklung. Ein anderes Beispiel für den Wandel: Der Tourismus wuchs 2018 um 9,4 Prozent. Kolumbien zählt laut Weltbank zu den drei besten Ländern für Investoren in Lateinamerika.

Verwandte trauern auf dem Sarg eines getöteten Idigenen.
Verwandte trauern auf dem Sarg eines getöteten Idigenen.
© Christian Escobar Mora/AP/dpa

Man muss auch betonen, wie gut Kolumbien mit der Ankunft von zwei Millionen Flüchtlingen aus Venezuela umgeht. Allein über die Grenze in der Stadt Cúcuta strömen täglich 50.000 Venezolaner, von denen 5000 in Kolumbien bleiben. Die Regierung des konservativen Ivan Duque aber auch die Bevölkerung begegnen ihnen pragmatisch und solidarisch. Die Stimmung könnte aber kippen, wenn die Flüchtlingszahl drastisch zunehmen und Kolumbiens soziale Widersprüche sich verschärfen.

Ebenso könnten isolierte Regionen in diffuse Konflikte abgleiten, wenn die Regierung weiterhin das Agieren krimineller Gruppen ignoriert. Im Westen des Landes ist bereits das mexikanische Sinaloa-Kartell aufgetaucht; im Departement Cauca wurden am Dienstag fünf Indigene von Dissidenten der Farc-Guerilla erschossen. Dem steht der Fortschritt in den Städten gegenüber: In Bogotá ist erstmals eine Frau zur Bürgermeisterin gewählt worden, die offen lesbisch lebt.

VENEZUELA – RATLOSIGKEIT ALLERORTEN

Anfang des Jahres blickte die Welt nach Caracas, der Präsident des entmachteten Parlaments, der 36 Jahre alte Juan Guaido, ernannte sich zum Interimspräsidenten. Von Donald Trump bis zur EU wurde er anerkannt. Es kam zu Demonstrationen gegen den sozialistischen Machthaber Nicolás Maduro, zu Toten und Gewalt. 4,3 Millionen Menschen haben das Land mit den größten Ölreserven der Welt verlassen, Hunger, Stromausfälle und Misswirtschaft trieben Venezuela in den Ruin. Doch die Machtbasis Maduros hielt: das Militär.

Eine wichtige Rolle spielten die mächtigsten Unterstützer: China und Russland. Und der Hunger – zum Beispiel über das Carnet de Patria müssen die Menschen den Sozialisten ihre Zustimmung versichern und bekommen im Gegenzug subventionierte Lebensmittelpakete.

Die Korruption blüht im Sozialismus des 21. Jahrhunderts, mehrere Tonnen der Goldreserven sind unter dubiosen Umständen im Ausland geparkt worden. Berichterstattung über die Missstände wird nach Möglichkeit unterdrückt. Und die USA beschuldigen die Regierung, einen Großteil des Kokains aus Kolumbien über Venezuela ins Ausland zu schmuggeln. Besserung ist nirgends in Sicht, die höchste Inflation der Welt, die Vereinten Nationen rechnen für 2019 mit einem weiteren Absturz der Exporte um 49,9 Prozent.

Dennoch ist gerade Caracas oft auch eine Parallelwelt, wer Geld hat, fliegt dank des spottbilligen Treibstoffs mit dem Privatjet zum Einkaufen nach Miami. Das Öl wurde zum Fluch, der Preis sank zeitweise stark, rund 95 Prozent der Einnahmen kommen aus der Ausfuhr des Erdöls. Doch die Förderanlagen sind marode, die meisten ausländischen Unternehmen weg, und der Tourismus ist tot.

Jüngst waren in einer Geheimmission mehrere Abgeordnete der Opposition bei der EU in Brüssel und im Auswärtigen Amt in Berlin und flehten um Hilfe, doch es herrscht Ratlosigkeit, trotz der Unterstützung Guiados reichte es nicht zur Wende. 17 der 112 Oppositions-Abgeordneten leben inzwischen im Exil, die verschärfte Repression hat den Widerstand vorerst gebrochen.

Maduro scheint daher nun auf vorgezogene Neuwahlen des Parlaments zu setzen, um auch hier wieder eine sozialistische Mehrheit zu bekommen und um einen demokratischen Anschein zu wahren. Die letzten freien Wahlen waren die zum Parlament im Dezember 2016 – viele dachten, das sei der Anfang vom Ende des Sozialismus-Experiments und von Nicolás Maduro. Ein Trugschluss.

PERU – SCHÖN, ABER KORRUPT

Die Traumata der autoritären Regierungszeit Alberto Fujimoris wirken bis heute nach in Peru. Der Vater im Gefängnis, gewann Tochter Keiko 2016 fast die Wahl, heute sitzt sie selbst wegen Korruptionsvorwürfen in Untersuchungshaft, hat aber weiter viel Einfluss über die stärkste Partei im Parlament. Und sie ist beteiligt an einem auch für Juristen kaum noch zu durchschauenden Machtkampf.

Präsident Martín Vizcarra hat Ende September überraschend den von dem konservativen Fujimori-Lager kontrollierten Kongress aufgelöst und Neuwahlen für Ende Januar angekündigt, da die Kongressabgeordneten, allen voran die „Fujimoristas“, seinen Kampf gegen Korruption im Land blockierten. Er ist Nachfolger von Pedro Pablo Kuczynski, der war im Zuge des Skandals um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht, der Politiker in ganz Lateinamerika geschmiert hat, zurückgetreten.

Vizcarra ist beliebt, in dem Konflikt geht es auch um Versuche des Parlaments, die Justiz stärker zu beeinflussen – nicht wenige fürchten ein politisches Comeback von Keiko Fujimori, die mit einer rechten Agenda und „einer harten Hand“ punkten will. Der Kongress hat aber die Auflösung durch Vizcarra nicht akzeptiert, stattdessen für eine Suspendierung Vizcarras gestimmt und Vizepräsidentin Mercedes Aráoz mit den Stimmen der Fujimori- Partei Fuerza Popular zur neuen Präsidentin bestimmt – damit hatte Peru zwei Staatschefs, aber Aráoz hat inzwischen den Rücktritt erklärt und unterstützt den Neuwahlplan.

Perus Präsident Martín Vizcarra (Mitte).
Perus Präsident Martín Vizcarra (Mitte).
© Freddy Zarco/ABI/dpa

Eigentlich glänzte das Land zuletzt durch gute Daten, 4,2 Prozent Wachstum 2018. Und in wohl kaum einer Stadt lässt es sich so gut essen wie in Lima – Starköche wie Gastón Acurio unterstützen Kochschulen in Armenvierteln – junge Leute träumen hiervon, so wie er zu werden. Absolventen gehen häufig nach Dubai oder Russland, um sich das Startkapital für den Traum vom eigenen Restaurant daheim zu erarbeiten. Wer in Lima unterwegs ist, sieht aber auch viele verarmte Venezolaner, auch hierhin sind die Menschen aus dem Krisenland geflüchtet, viele Frauen prostituieren sich, Männer versuchen etwa als Uber-Fahrer ein paar Soles zu verdienen.

Eine besonders positive Erfahrung mit der Herzlichkeit der Peruaner machte im Oktober eine Nachfahrin der Familie von Humboldt, Dorothee von Humboldt. Sie war zu den 250-Jahr-Feierlichkeiten des Naturforschers Alexander von Humboldt in Lima und verlief sich abends im Szenebezirk Barranco. Ein Ehepaar fuhr sie spontan zum Hotel, erfuhr wer sie ist und schrieb am nächsten Tag per Mail: „Es war für uns ein Privileg, mit Ihnen in Kontakt zu treten, einer direkten Nachfahrin dieses so angesehenen Wissenschaftlers, der so viel für Peru geleistet hat.“

ECUADOR – DIE ARMEN BEZAHLEN

Die Eltern von Ecuadors Präsident Lenin Moreno haben sich von besonderen Köpfen beeindrucken lassen – seine Vornamen lauten Lenin Voltaire. Doch seine Politik ist alles andere als revolutionär oder links – er hat sich abgesetzt von seinem Vorgänger Rafael Correa, unter dem er einst Vizepräsident war und mit dem er sich heillos überworfen hat.

Das kleine Land am Äquator hatte dank der enormen Rohstoffvorkommen und zeitweise starken Wachstums das Interesse auch wichtiger deutscher Unternehmen geweckt. Doch wegen der Unruhen daheim musste Moreno Besuche bei Kanzlerin Angela Merkel und Treffen mit der deutschen Wirtschaft absagen – Moreno nahm auf Druck der mächtigen indigenen Dachorganisation CONAIE nach Protesten, mehreren Toten, Verhängung des Ausnahmezustands und der Mobilmachung des Militärs ein Dekret zurück, das zu einer Verdopplung der Spritpreise geführt hatte.

In einem Interview mit der Deutschen Welle bezichtigte er nun den Vorgänger Correa gerade in Venezuela gewesen zu sein und mit Hilfe Maduros einen Umsturz zu planen. Fakt ist: In Zeiten des Ölbooms wurde zwar viel modernisiert, aber auch zu viel ausgegeben.

Kein Land der Region ist pro Kopf so stark gegenüber China verschuldet wie Ecuador. Der Riese aus Fernost hat sich zur Bedienung der Schulden einen Zugriff auf die Ölreserven gesichert. Moreno wollte sich nicht wie Correa noch mehr in die Hände der Chinesen begeben und zur Kolonie Pekings werden – er ging zum Internationalen Währungsfonds. Dieser hatte für einen Kredit von rund vier Milliarden Dollar unter anderem die Streichung der Kraftstoff-Subventionen zur Bedingung gemacht, die Preise für Diesel wuchsen um mehr als 100 Prozent.

„Das traf die kleinen Bauern und Indigenen mit alten Traktoren und Autos. Eine Studie hat berechnet, dass 78 Prozent der Erhöhungen die Ärmsten der Armen treffen“, sagt Wolf Grabendorff, Direktor des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Quito. Er sieht Analogien zur Lage in anderen Weltgegenden. „Die Demokratieakzeptanz hat in der Region überall stark abgenommen.“ Ecuador liegt an der Spitze. Laut des Latinobarómetro sank die Unterstützung der Bevölkerung für die Demokratie zwischen 2017 und 2018 von 69 auf 50 Prozent.

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