Spannungen in Nachbarstaaten: Massenflucht aus Venezuela belastet Lateinamerika schwer
Den UN zufolge haben bereits 2,3 Millionen Venezolaner ihr bankrottes Land verlassen. In Nachbarstaaten kommt es nun zu Spannungen. Ein Überblick.
Die Brasilianer kamen im Dunkeln mit Knüppeln und Benzinkanistern. Sie zündeten die Zelte und Hütten der Flüchtlinge aus Venezuela an. Das Hab und Gut vieler Menschen verbrannte, manche verloren Dokumente, gespartes Geld, ihre Kleidung und gehortete Nahrungsmittel. So berichteten es die Opfer der Attacke, die sich in der brasilianischen Grenzstadt Pacaraima ereignete.
Rund 1200 Flüchtlinge zogen anschließend unter Beifall und Johlen vieler Anwohner über die Grenze zurück nach Venezuela. „Ich möchte lieber in Venezuela verhungern als in Brasilien totgeschlagen werden“, sagte ein geschockter Flüchtling.
Ausgelöst wurde der Zorn der Brasilianer von einem Raubüberfall auf einen lokalen Geschäftsmann, der angeblich von vier Venezolanern mit Messern und Schlägen fast umgebracht worden wäre. Die Tat brachte die ohnehin schon angespannte Stimmung in dem 12.000-Einwohner-Städtchen zum Überkochen.
Es war der erste große Gewaltausbruch, seit 2015 der Exodus aus Venezuela in die Nachbarländer Brasilien und Kolumbien sowie nach Ecuador, Peru und Chile begonnen hatte. Die UN schätzen, dass bisher 2,3 Millionen Venezolaner ihr bankrottes Land verlassen haben. Das sind sieben Prozent der Bevölkerung, mehr als die Hälfte sei bei der Flucht unterernährt gewesen, so die UN.
Aufnahmeländer können Massen nicht bewältigen
Für die Aufnahmeländer wird es immer schwieriger, die Migranten unterzubringen, zu ernähren und medizinisch zu versorgen. „Lateinamerika hat so eine große Flüchtlingskrise noch nicht erlebt“, sagt Matthew Reynolds vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge. Weitere Hunderttausende Venezolaner haben ihr Land gen USA und Spanien verlassen, weil sie dort Verwandte haben.
In Südamerika versuchen nun einige Länder trotz großer anfänglicher Solidarität den Migrantenstrom zu bremsen, um soziale Spannungen zu vermeiden. Die meisten Staaten Südamerikas sind weder finanziell noch logistisch für die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge gerüstet. Die Krise hat somit das Potential, einige Regionen des Kontinents zu destabilisieren – zumal eine Verbesserung der Lage in Venezuela nicht abzusehen ist. Die Regierung in Caracas leugnet trotz verhungernder Kinder, dass es überhaupt eine humanitäre Krise gibt und lehnt alle Hilfsangebote ab.
In Brasilien sind im Oktober Wahlen
Es mag überraschen, dass es ausgerechnet in Brasilien zu Gewalt gegen die Venezolaner gekommen ist. In dem Land gibt es eine lange Tradition der Offenheit gegenüber Neuankömmlingen; außerdem hat es nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Migranten aufgenommen, Schätzungen gehen von 40.000 bis 60.000 aus.
Das Problem ist, dass die große Mehrheit von ihnen im armen und nördlichsten Bundesstaat Roraima geblieben ist. Roraima hat selbst nur 500.000 Einwohner. Der Bundesstaat war also von Beginn an überfordert. Tausende Venezolaner richteten sich wegen fehlender Unterkünfte auf Straßen und Plätzen ein, suchten nach Handlangerarbeiten und bettelten. Auch die Prostitution nahm deutlich zu.
„Wenn es so weiter geht, haben wir Ende des Jahres keine Kontrolle mehr“, warnte die Bürgermeisterin von Roraimas Hauptstadt Boa Vista. Aber die Bundesregierung in Brasilia ignorierte die Situation, bis Roraima im August eigenmächtig (und verfassungswidrig) die Grenze zu Venezuela schloss.
Präsident Michel Temer hat nach den Ausschreitungen nun versprochen, mehr Soldaten zu entsenden und die Flüchtlinge auf andere Bundesstaaten verteilen. Ob es hilft, die Situation zu entspannen, ist fraglich. Im Oktober sind Wahlen in Brasilien und rechte Kandidaten versuchen bereits, Stimmung gegen die Venezolaner zu machen, etwa weil diese Krankheiten wie Masern eingeschleppt haben, die es in Brasilien kaum mehr gab.
Kolumbien erteilt zweijährige Aufenthaltsgenehmigungen
Der westliche Nachbar Venezuelas hat mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Mehr als eine Millionen sind der kolumbianischen Regierung zufolge ins Land gekommen. Viele von ihnen sind allerdings nicht geblieben, sondern weiter nach Ecuador gezogen.
Die konservative kolumbianische Regierung war von Anfang an offen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Das hat auch damit zu tun, dass Kolumbien und Venezuela seit der Machtübernahme der Chavisten in Caracas einen Disput um die regionale Vorherrschaft austragen. Zudem suchten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Kolumbien viele Jahre lang Schutz in Venezuela. Diese Situation hat sich nun umgekehrt.
Kolumbiens geschiedener Präsident und Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos hat als eine seiner letzten Amtshandlungen 440.000 Venezolanern eine Aufenthaltsgenehmigung für zwei Jahre erteilt. Sie erlaubt es ihnen, zu arbeiten und zu studieren und garantiert eine erste medizinische Versorgung. 30000 venezolanische Kinder sind bereits in kolumbianischen Schulen registriert. Vor wenigen Tagen hat die US-Regierung ein Hospitalschiff nach Kolumbien entsandt, um die Regierung bei ihrer Hilfe für die Venezolaner zu unterstützen.
Trotz der Großzügigkeit ist nicht abzusehen, wie sich die Situation langfristig unter dem neuen, rechten Präsidenten Ivan Duque entwickelt. Kolumbien ist trotz des Friedensabkommens mit der ehemaligen Farc-Guerilla weiter von politischer Gewalt betroffen. In vielen Regionen sind paramilitärische Gruppen aktiv, der Drogenhandel floriert wie nie. Mancherorts macht sich nun Unmut über die vielen Flüchtlinge breit. Kolumbien ist zudem das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen der Welt: 7,7 Millionen zumeist arme Menschen sind dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge von ihrem Land vertrieben worden.
Einreise nach Ecuador nur noch mit Reisepass
Eine halbe Millionen Venezolaner sind in diesem Jahr bereits in Ecuador eingetroffen, einem der kleinsten und ärmsten Länder Südamerikas. Die meisten kamen aus Kolumbien und reisten durch die nördliche Grenzstadt Tulcan ein. Sie verzeichnete allein im August rund 45.000 Neuankömmlinge, sagen dortige UN-Vertreter.
Der große Zustrom löst nun Unruhe aus. Offenbar aufgestachelt von Medienberichten über stehlende Flüchtlinge, demonstrierten schon Hunderte Bewohner Tulcans gegen die Venezolaner, die sich mit Betteln, Gelegenheitsjobs und der Hilfe von NGOs über Wasser halten.
Als Reaktion auf den großen Zustrom hat die Regierung in Quito verfügt, dass die Venezolaner beim Grenzübertritt seit dem 18. August einen Reisepass vorweisen müssen. Dies hat bereits zu einem Rückstau Tausender Flüchtlinge und chaotischen Verhältnissen auf kolumbianischer Seite geführt, da die allermeisten Venezolaner keine Reisepässe besitzen. Der Menschenrechtsbeauftragte der ecuadorianischen Regierung kritisierte die Verfügung scharf und verglich sie mit Donald Trumps Absicht, eine Mauer zu Mexiko zu bauen.
Viele Flüchtlinge betrachten Ecuador tatsächlich nur als eine Etappe auf ihrem weiteren Weg nach Peru und Chile. In diesen Ländern ist die wirtschaftliche Situation besser und manche Venezolaner haben dort Verwandte.
Restriktionen auch in Peru und Chile
Wie das Nachbarland Ecuador will nun auch Peru nur Venezolaner mit einem Reisepass ins Land lassen. Es ist jetzt schon abzusehen, dass die Maßnahme die Zahl der unkontrollierten Grenzübertritte steigern und das Geschäft von Schlepperbanden befördern wird. Angesichts der Kosten und der chaotischen Lage in Venezuela ist es für die meisten Venezolaner so gut wie unmöglich, einen Reisepass zu erhalten. Peru beherbergt einige Zehntausend Flüchtlinge aus Venezuela.
Das relativ wohlhabende Chile hat der Internationalen Organisation für Migration zufolge mehr als 100.000 venezolanische Migranten aufgenommen. Aber es will von ihnen in Zukunft ein polizeiliches Führungszeugnis sehen. Für dessen Ausstellung verlangt die venezolanische Botschaft in Santiago nun umgerechnet 50 US-Dollar. Es ist ein astronomischer Betrag für die meisten Flüchtlinge.
Ganz offensichtlich wollen Ecuador, Peru und Chile weitere venezolanische Flüchtlinge abschrecken, zu ihnen zu kommen. In Südamerika ist die große anfängliche Solidarität ersten Versuchen gewichen, die Krise vom eigenen Land fernzuhalten.