Hyperinflation in Venezuela: Handtaschen aus Geldscheinen
Venezuela steuert auf eine Hyperinflation von 1000 Prozent zu – das trifft vor allem die Armen und Kranken. Aber auch Wohlhabende müssen ihr gesamtes Geld für Lebensmittel ausgeben.
Aus all den desolaten Nachrichten aus Venezuela ragte diese noch hervor: Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat vorausgesagt, dass die Inflation in Venezuela bis zum Jahresende eine Millionen Prozent betragen wird. Der IWF vergleicht die Situation mit der in Deutschland im Jahr 1923 und der in Zimbabwe am Ende der 1990er Jahre. Beide Länder erlebten kurze Zeit später politische Umwälzungen.
Um sich vorstellen zu können, was eine Millionen Prozent Inflation heißt: Würde man beispielsweise für einen Kaugummi am ersten Tag des Jahres einen Cent hinlegen müssen, so wären es am letzten Tag des Jahres 10.000 Euro. Die praktischen Probleme dieses Geldwertverfalls kann sich jeder vorstellen.
Mit der Hyperinflation einher geht ein atemberaubender wirtschaftlicher Niedergang. Der IWF schätzt, dass das Bruttoinlandsprodukt Venezuelas dieses Jahr um 18 Prozent schrumpfen wird. Es wäre das dritte Jahr in Folge, in dem die Wirtschaftsleistung der ölreichen Nation im zweistelligen Bereich abnimmt. Das sonstige Lateinamerika verzeichnet hingegen leichte Wachstumsraten.
Eine neue Währung soll es richten
Venezuelas sozialistischer Präsident Nicolás Maduro reagierte auf die Vorhersagen des IWF, indem er eine neue Währung ankündigte. Der „Souveräne Bolívar“ (Bolivar Soberano) werde fünf Nullen weniger haben als der alte Bolívar und am 20. August in Umlauf gebracht. Sein Wert werde an die venezolanische Kryptowährung Petro geknüpft. Maduros Ankündigung war auch deswegen überraschend, weil es noch einen Tag zuvor geheißen hatte, dass die neue Währung lediglich drei Nullen weniger haben werde. Der Präsident sagte voraus, dass die Einführung der neue Währung die monetäre und finanzielle Situation des Landes „radikal verändern“ werde.
Doch das darf getrost bezweifelt werden. Die Enteignung großer Unternehmen, die staatliche Festlegung von Preisen und Wechselkursen, der dramatische Niedergang der Ölproduktion aufgrund fehlender Investitionen, die Korruption – all das sind strukturelle Ursachen für den Niedergang der venezolanischen Wirtschaft. Während sich die reichen Venezolaner oft helfen können, weil sie Zugang zu Dollars haben, die auf dem Schwarzmarkt zu Kursen von bis zu 3,6 Millionen Bolivares gehandelt werden (ein Vielfaches über dem offiziellen Wechselkurs), trifft es die Armen besonders hart.
Arbeiter mit Mindestlohn werden nicht satt
Der Mindestlohn liegt derzeit bei 5,5 Millionen Bolivares im Monat. Das sind umgerechnet ein 1,50 Dollar. Aber allein für ein Kilo Fleisch muss man schon zehn Millionen Bolivares aufbringen. Und ein Brot kostet mancherorts 1,4 Millionen Bolivares. Die Arbeitnehmer, die den Mindestlohn beziehen, werden also nicht satt und leiden Hunger: Das Durchschnittsgewicht der Venezolaner nahm 2017 nicht zufällig um 14 Kilogramm ab. Und selbst etwas wohlhabendere Venezolaner geben mittlerweile ihr gesamtes Einkommen nur für Nahrungsmittel aus, es gilt als Luxus, sich neue Kleidung zu kaufen oder auszugehen.
Wegen der Inflation muss zudem alles Geld schnell ausgegeben werden, weil es binnen Stunden an Wert verliert. Ohnehin gibt es ständig Probleme mit dem Bargeld: Da der höchstwertige Geldschein derzeit eine 100 000 Bolívar-Note ist, spucken die Geldautomaten aus Platzgründen pro Person nur ein paar Millionen Bolívar aus, was dann gerade einmal für einige Basiseinkäufe reicht. Da manche Geldscheine aber ohnehin so gut wie nichts mehr Wert sind, werden sie zweckentfremdet. Findige Handwerker stellen bereits Handtaschen aus ihnen her. Die Probleme mit dem Bargeld – wie soll man mit solchen Beträgen rechnen und wo soll man das viele Papier unterbringen – haben mit dazu beigetragen, dass nun circa 85 Prozent aller Zahlungen elektronisch stattfinden. Venezuela erlebt also eine fast bargeldlose Hyperinflation – ein historisches Novum.
Ein Versorgungskomitee als politisches Druckmittel
Um die Armen in dieser Situation irgendwie bei der Stange zu halten, verteilt die Regierung einmal im Monat Lebensmittelkisten, die sogenannten CLAP – das steht für „Lokales Versorgungs- und Produktionskomitee“. In den Kisten sind Grundnahrungsmittel wie Reis, Nudeln, Maismehl und Öl. Aber nicht einmal sie werden noch in Venezuela produziert, sondern aus Kolumbien, Mexiko und der Türkei importiert. Dies trägt weiter dazu bei, dass die Regierung ihre klammen Devisenreserven aufbraucht. Außerdem setzt sie die CLAPs als politisches Druckmittel ein. Nur Inhaber des von der Regierung erfundenen „Vaterlandsausweises“ (Carnet de la Patria) kommen als Empfänger infrage. So wird offener Widerspruch unterdrückt. Fast zwei Drittel der Venezolaner hängen mittlerweile von solchen Zuwendungen der Regierung ab.
Die Liste der ökonomischen Widersprüche lässt sich lange fortsetzen. Dabei sind es oft die kleinen Absurditäten, die das große Debakel charakterisieren. So ist etwa die Benutzung der Metro in der Hauptstadt Caracas kostenlos, weil der Druck eines Tickets den Preis einer Fahrt übersteigen würde, der nicht an die Inflation angepasst wurde. Es gäbe auch gar keine Münzen oder Scheine, deren Wert gering genug wäre, um ein Ticket zu lösen. Das Metrosystem wird also absehbar ebenso zugrunde gehen wie der Busverkehr. Viele Busse fahren nicht mehr, weil die Busbesitzer ihre Fahrzeuge aufgrund zu teurer Ersatzteile nicht in Schuss halten können.
Wasser nur alle paar Tage
Auch in anderen Bereichen kollabiert die öffentliche Infrastruktur. In manchen Regionen des Landes, darunter auch die Hauptstadt Caracas, kommt nur noch alle paar Tage Wasser aus dem Hahn. Ein venezolanischer Twitter-Nutzer kommentierte dies so: „Wasser auf dem Mars entdeckt. Bei uns ist es verschwunden.“ Auch Stromausfälle gehören in Venezuela zum Alltag, weil Korruption, fehlende Wartung und Investitionen das Energienetz ruiniert haben.
Besonders hart von der Krise ist das Gesundheitssystem betroffen: Wer krank ist oder eine Operation benötigt, bringt am besten die Medikamente oder Operationsbestecke selbst mit ins Krankenhaus. Der krasse Mangel hat dazu geführt, dass die Kindersterblichkeit im vergangenen Jahr um 30 Prozent zugenommen hat, die Müttersterblichkeit stieg sogar um 65 Prozent. Nach der Veröffentlichung dieser Zahlen durch das Gesundheitsministerium, entließ Präsident Maduro umgehend die Gesundheitsministerin. Schon seit Längerem veröffentlicht die venezolanische Regierung keine Daten mehr zur wirtschaftlichen Situation.
Es ist angesichts dieser Verhältnisse also verständlich, dass 1,5 Millionen Venezolaner ihr Land in Richtung Kolumbien und Brasilien verlassen haben. Dennoch hält sich das Regime von Nicolás Maduro hartnäckig. Es hat damit zu tun, dass die Opposition schwach, zerstritten und rückwärtsgewandt ist und Maduro das Militär kontrolliert. Sollte sich die wirtschaftliche Situation jedoch nicht verbessern, steht wohl auch Venezuela eine politische Umwälzung bevor.
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