Christian Lindner: „Man kann Schulschwänzen nicht heiligsprechen“
FDP-Chef Christian Lindner über die Proteste für mehr Klimaschutz, sein Verhältnis zu den Grünen und die Landtagswahlen im Osten. Ein Interview.
Herr Lindner, wie viele Semester Klimawissenschaft haben Sie eigentlich studiert?
Gar keines. Ich habe Politikwissenschaft und Staatsrecht studiert.
Und trotzdem sagen Sie über die Schüler, die derzeit zu Hunderttausenden für mehr Klimaschutz demonstrieren, sie sollten die Klimapolitik den Profis überlassen?
Ja, denn ich beziehe ja mich selbst und die Politik dort mit ein. Die Pariser Klimaziele sind klar und völkerrechtlich verbindlich. Es geht da längst nicht mehr um das Ob von Klimaschutz, sondern um das Wie. Und bei der Umsetzung hören wir zu wenig auf Ingenieurinnen und Techniker. Klimawissenschaftler kommen in den Medien oft zu Wort, aber zu selten diejenigen, die neue, umweltfreundliche Technologien entwickeln.
Viele finden den Protest der Schüler aber wichtig. Und Sie selbst haben doch im letzten Wahlkampf mit dem Slogan geworben: „Schulranzen verändern die Welt, nicht Aktentaschen.“
Bei dem Plakat ging es um die Priorität für Bildungspolitik. Und gerade deshalb kann man nicht Unterrichtsausfall und Bildungsmisere beklagen, um dann Schulschwänzen heilig zu sprechen. Ich finde es schwach, wenn Spitzenpolitiker im Mainstream segeln. Politisches Engagement von Heranwachsenden ist großartig. Aber das bitte außerhalb der Schulzeit. Gerade weil ich junge Menschen ernst nehme, erlaube ich mir diesen Widerspruch.
Vielleicht müssten die Schüler gar nicht auf die Straße gehen, wenn sich auch die FDP mal stärker für Klimaschutz einsetzen würde?
Einer unserer allerersten Anträge im Bundestag ging um Klimaschutz. Die AfD leugnet den Klimawandel. Die Grünen nutzen den Klimawandel, um mit Planwirtschaft die Industrie umzubauen und Menschen umzuerziehen. Wir dagegen wollen Klimaschutz so gestalten, dass wir weiter ein Land mit Wohlstand und individuellen Freiheiten sein können. Die Menschen sollen weiter Fleisch essen, Auto fahren und mit dem Flugzeug verreisen dürfen.
Was schlagen Sie denn konkret vor, um den Klimawandel zu stoppen?
Nichts ist stärker als der Antrieb, Kosten zu sparen und Gewinne zu erzielen. Deshalb wollen wir die Innovationskraft der Marktwirtschaft in den Dienst der Umwelt stellen. Wenn wir dem CO2-Ausstoß einen Preis geben, schafft das Anreize. Denn Verbraucher und Firmen werden versuchen, CO2 zu vermeiden. In der EU gibt es das schon für die Energiewirtschaft. Wir brauchen es aber auch für den Verkehr, die Landwirtschaft und Gebäude. Das wäre besser als die vielen Subventionen, Quoten und Verbote, die nicht zum Ziel geführt haben. Am besten machen wir das europäisch, aber in Deutschland könnten wir Vorreiter sein.
Das würde die Verbraucherpreise aber in die Höhe treiben. Dann können nicht mehr alle nach Mallorca in den Urlaub fliegen.
Sie haben recht. Umso mehr wundere ich mich, warum den Grünen nie diese Frage gestellt wird. Im Gegensatz zu ihnen haben wir die ökonomischen Folgen im Blick. Wir müssen den CO2-Preis mit einer Klimadividende verbinden. Die Milliarden aus dem Verkauf von CO2-Verschmutzungsrechten sollten nicht in den herkömmlichen Staatshaushalt fließen, sondern an die Bürger ausgezahlt werden – und zwar pro Kopf. Möglich wäre das etwa durch einen jährlichen Scheck zu Weihnachten vom Finanzamt. Damit kann dann auch der Flug nach Mallorca bezahlt werden. Das ist ein Anti-Gelbwesten-Programm.
Wieso das?
Das Beispiel Frankreich lehrt uns, dass Klimapolitik sozial gerecht gestaltet werden muss. Dort sind die Menschen wegen der Erhöhung der Benzinpreise auf die Straße gegangen. In Deutschland sind wir davor nicht gefeit: Es ist eine Provokation, den Dieselfahrer quasi zu enteignen.
Sie sprechen in dem Zusammenhang gerne von einem „Kulturkampf gegen das Auto“. Ist das nicht etwas dick aufgetragen?
Nein, warum? Wenn die Grünen wollen, dass das Auto abgegeben wird, ist das doch ein Kulturkampf. Es geht ihnen nicht allein um Luftqualität in den Innenstädten und Klimafragen, sondern darum, individuelle Mobilität zu verbieten. Ich bin für die Transformation der Automobilindustrie. Aber individuelle Mobilität muss erhalten bleiben.
Auch wenn Sie dauernd gegen die Grünen sticheln: Würden Sie bereit stehen für einen fliegenden Wechsel in eine Jamaika- Koalition, ohne Neuwahlen? Schließlich weiß niemand, wie lange die Groko noch hält.
Mir wurde gerade von Ihrem Blatt vorgehalten, dass ich mich dazu oft äußere. Jetzt stellen Sie selbst erneut diese Frage. Die Antwort ist immer dieselbe: Wir laufen nicht weg, wenn andere auf uns zukommen. Aber wir laufen auch nicht hinterher. Wir wollen die Menschen entlasten von Bürokratie und Solidaritätszuschlag. Wir fordern ein Einwanderungsgesetz, das weltoffener ist, als Herr Seehofer sich es vorstellen kann und kontrollierter, als die Grünen es bisher erlauben. Und eine klare europapolitische Antwort an Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, in der wir deutlich machen, dass wir mehr gemeinsam tun wollen, außer gemeinsam Schulden machen.
Wenn die Bedingungen stimmen, sind Sie also dabei. Hätten Sie keine Bedenken, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zur Kanzlerin zu wählen?
Wenn es mit Frau Kramp-Karrenbauer ein Programm gibt zur Erneuerung des Landes und eine faire Zusammenarbeit möglich ist, können wir uns das vorstellen.
AKK hat ein sehr konservatives Gesellschaftsbild. Sie hat zum Beispiel die „Ehe für alle“ mit Inzucht und Polygamie verglichen. Geht das der FDP nicht gegen den Strich?
Klar, das sehe ich kritisch. Liberaler wird die CDU unter Frau Kramp-Karrenbauer jedenfalls nicht werden. Angela Merkel war hier elastischer in ihren Überzeugungen. Koalitionen bedeuten allerdings nicht, in allem einer Meinung zu sein. Die CDU entdeckt ihren Markenkern: ein traditionelles Gesellschaftsbild verbunden mit dem Versprechen innerer Sicherheit. Grünen-Chef Robert Habeck verlegt sich derweil auf eine linke Umverteilungspolitik mit erhobenem Zeigefinger.
Das klingt alles aber nicht so, als ob Jamaika wahrscheinlicher geworden wäre.
Nein. Aber zumindest haben alle aus den gescheiterten Sondierungen 2017 gelernt. Jamaika kann kein schwarz-grünes Bündnis sein, das mit den Stimmen der FDP ins Amt gewählt wird. Wir haben eigene Ideen und Projekte, die wir umsetzen wollen.
Hat sich Ihr Verhältnis zu den Grünen zumindest auf persönlicher Ebene verbessert?
Bei den Grünen gibt es unterschiedliche Flügel. Die Parteispitze hat mit der Parlamentsarbeit so gut wie nichts zu tun. Im Bundestag wiederum ist die Zusammenarbeit vertrauensvoll – auch wenn uns Inhalte trennen. Es gibt gemeinsame Erfolge: FDP und Grüne haben es geschafft, die Groko in der Bildungspolitik in Bewegung zu bringen. Wir haben im Bundesrat erreicht, dass Bund und Länder endlich zusammenarbeiten können, wenn es um die Anschaffung von Tablets und Smartboards in Schulen geht.
Rechnen Sie denn überhaupt damit, dass es vor der Bundestagswahl 2021 zu einem Wechsel im Kanzleramt kommt?
Ich glaube, dass die große Koalition bis 2021 weitermacht. Und von allen kursierenden Spekulationen halte ich es am wahrscheinlichsten, dass die SPD Frau Kramp-Karrenbauer nächstes Jahr zur Kanzlerin wählt. Das werden sich die Sozialdemokraten aber teuer bezahlen lassen – mit Milliarden für ihre Projekte. Geld, das Deutschland nicht hat.
Die FDP waren lange die erste Wahl der CDU. Jetzt gibt auch AKK Doppelinterviews mit Katrin Göring-Eckardt von den Grünen. Haben die Grünen die FDP in der Rolle des Wunschkoalitionspartners abgelöst?
Wir sind eine eigenständige Partei. Vom Konzept des Wunschkoalitionspartners habe ich nie etwas gehalten. Die Grünen erwecken einen bürgerlichen Anschein, sind aber nach eigenen Aussagen eine linke Partei. Die CDU hat in Hessen mit den Grünen zusammen Schulnoten abgeschafft, eine Politik gegen das Auto gemacht und Bürokratie aufgebaut. Wenn das die präferierte Koalitionsoption ist, dann wünsche ich viel Freude.
Vor der nächsten Bundestagswahl stehen erstmal Landtagswahlen im Osten an. Dort ist die FDP eher schwach. Dabei gibt es doch dort viele Bürger, die dem Staat gegenüber skeptisch sind - was einer liberalen Partei zupasskommen müsste.
Im Osten ist die Stimmungslage gegenüber dem Staat zwiespältig. Ich erlebe viele Bürger, die sich einen handlungsfähigen Staat zum Beispiel bei Abschiebungen und Polizei wünschen. Gleichzeitig sagen sie: Lasst uns mit der Bürokratie im Alltag in Ruhe. Das ist natürlich eine Chance für uns.
Ihre Partei warnt vor „Fehlanreizen“ für Einwanderer. Asylbewerber sollen deshalb kein Bargeld mehr bekommen, sondern nur noch Sachleistungen. Steckt hinter der harten Linie die Angst vor der AfD im Osten?
Ich bin in der Frage Bargeld oder Sachleistung gar nicht festgelegt. Klar ist für mich aber, dass man sich gegen die völkische Abschottungsideologie der AfD genauso wehren muss wie gegen eine naive Einwanderungspolitik. Wir wollen, dass Qualifizierte leichter zu uns kommen können. Der Arbeitsmarkt muss der Magnet sein. Aber wenn die Menschen in den Sozialstaat einwandern wollen, würde uns das überfordern. Und wer weder beruflich qualifiziert noch bedroht ist, muss wieder gehen.
Ihre Warnung vor der Einwanderung ins Sozialsystem klingt auch immer ein bisschen nach AfD.
Nein, das ist die Erfahrung aller erfolgreichen Einwanderungsgesellschaften.
Wie wollen Sie die Gesellschaft denn zusammenhalten?
Nicht durch Herkunft oder Religion, sondern durch die Werte des Grundgesetzes, die Leistungsbereitschaft des Wirtschaftswunders und die Lehren aus der Geschichte. Das macht unsere Mentalität aus, die offen für Einwanderer ist. Aktuell besorgt mich, was passiert, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Einige werden davon vielleicht profitieren – die SPD könnte gewinnen. Aber die Ränder der Gesellschaft würden gestärkt. Man wird Sündenböcke suchen für den Abschwung. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sich die Regierung darum kümmert, den wirtschaftlichen Abstieg aufzuhalten.
Was sollte die Bundesregierung tun?
Wir brauchen flächendeckende Entlastungen für die Bürger, damit die Binnenkonjunktur wieder anspringt. Zum Beispiel sollten wir den derzeitigen Haushaltsüberschuss an die Bürger auszahlen. Für eine vierköpfige Familie wären das mehr als 500 Euro. Außerdem brauchen wir ein Moratorium für Subventionen und Bürokratie, ein anderes Einwanderungsrecht sowie Investitionen in Digitales.
Das sind die alten FDP-Forderungen. Liberalismus muss doch mehr sein als marktwirtschaftliche Antworten auf alle Probleme, oder?
Ist er, aber für wirtschaftliche Kompetenz schämen wir uns nicht. Es geht uns darum, den Menschen ihre Freiheit zu lassen. Zum Beispiel indem man klassische Familienmodelle nicht als rückständig denunziert, sondern ihnen gegenüber genauso tolerant ist wie gegenüber Patchwork-Familien. Liberalität bedeutet auch, für die nicht-kommerzielle Leihmutterschaft einzutreten oder für die nicht-kommerzielle Sterbehilfe. Das unterscheidet uns von den anderen Parteien. Denn Freiheit in Gesellschaft und Wirtschaft sind zwei Seiten derselben Medaille.
Gestiegen sind Ihre Umfragewerte nach der Bundestagswahl aber trotzdem nicht.
Sie sind trotz Gegenwind da, wo sie vor der Bundestagswahl waren. Das ist eine gute Ausgangslage.