Deutsch-französisches Tandem für Europa: Wie Merkel Macron verprellt
Merkel trifft Macron: Berlin hat einen handlungsfähigen Partner in Paris. Doch sein Stern sinkt, wenn niemand ihm hilft. Dann wäre die Chance zur Reform Europas vertan.
Die Bundesregierung ist dabei, eine historische Chance zur Stärkung Europas zu vertun. Seit 16 Monaten hat sie in Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Partner, der sein Land und die EU reformieren möchte. Die fünf Jahre unter Vorgänger François Hollande waren verlorene Jahre. Macron scheut die Risiken nicht, die mit der Erneuerung verbunden sind, wagt den Konflikt mit Gewerkschaften und anderen Lobbygruppen. Doch Deutschland hält ihn hin und tut wenig zu seiner Unterstützung – so als habe es alle Zeit der Welt und als könnte sich das Fenster der Gelegenheit nicht bald wieder schließen.
Rücktritt des populären Umweltministers Hulot
Die vergangene Woche gab Europa eine Ahnung, dass Macrons Stern auch sinken kann. Umweltminister Nicolas Hulot, das beliebteste Kabinettsmitglied, trat zurück. Die Begründung: Der Präsident habe seine Agenda nicht unterstützt. Das ist eine Schwächung von anderem Kaliber als die Schlagzeilen um Macrons prügelnden Leibwächter oder die Streiks der Eisenbahner. Und am Horizont droht die Europawahl. Wie soll Macron die zu einem Erfolg für sich machen? Seine Bewegung „En Marche“ gehört keinem europäischen Parteienbündnis an. Wie auch immer sie abschneidet, es wird sich wie eine Niederlage anfühlen.
Deutschland wird es wohl bald bereuen, dass es Macrons Angebote zur Erneuerung der EU nicht aktiver aufgegriffen hat, als er besser dastand und mehr bewegen konnte. Dazu hört man in Berlin: Aber wir mussten doch erst mal eine Regierung nach der Bundestagswahl bilden. Das ist eine Ausrede. Wären wir weiter, wenn die vierte Regierung Merkel im Oktober zustande gekommen wäre und nicht erst Mitte März? Wäre der Wille da gewesen, hätten deutsche Spitzenpolitiker längst auf Macrons Agenda eingehen können. Sie befürchten jedoch, Zugeständnisse machen zu müssen, die zwar langfristig kaum zu vermeiden sind, die sie aber ihren Wählern ungern erklären möchten.
Frankreich wünscht Zugeständnisse in der Sicherheitspolitik
Die betreffen in erster Linie die gemeinsame europäische Sicherheitspolitik und erst in zweiter die Eurozone, auch wenn in der deutschen Öffentlichkeit gerne der umgekehrte Eindruck verbreitet wird. Das ergeben Gespräche mit Verantwortungsträgern in Paris, die ich für das Buch „Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Partnern“, Herder Verlag 2018, geführt habe.
Philippe Étienne, der außen- und sicherheitspolitische Berater Emmanuel Macrons, residiert in einem Stadtpalais in der Rue de l’Élysée, in unmittelbarer Nähe des Zentrums französischer Staatsgewalt. Die Sitzgruppe, in der Besucher auf ihren Termin warten, wird von einer vielsagenden Fotografie dominiert. Ein entschlossen blickender Emmanuel Macron steht zwischen Trikolore und Europafahne und stützt beide Hände, zu Fäusten geballt, auf den Tisch. „Jetzt geht’s los“, lautet die Botschaft der Körpersprache.
Die Stimmung in Paris: Wir sind hellwach, ihr schlaft
Der Gedankenaustausch mit Étienne ist vertraulich. Das gilt auch für andere Gespräche im Außenministerium am Quai d’Orsay, im Verteidigungsministerium und mit hohen Diplomaten Frankreichs, Deutschlands, Polens und der USA in Paris sowie Vertretern Frankreichs in Brüssel. Zusammen genommen ergibt sich folgendes Bild der französischen Selbstsicht und der Erwartungen an Deutschland: Die internationale Lage ist ernst. Europa muss sich energisch bewegen, wenn es nicht Schaden erleiden oder an Bedeutung verlieren möchte. Frankreich ist aufgewacht, hat seine passive Haltung abgelegt und in Macron einen Präsidenten gewählt, der die Ärmel hoch krempelt und zu den nötigen Veränderungen bereit ist, inklusive der politischen Risiken, die mit Reformen des Arbeitsmarkts, einer Zusammenlegung der europäischen Verteidigungsindustrien sowie einem robusteren Auftreten im Ausland verbunden sind.
Europa muss eigene Ideen und Modelle als Antwort auf die Disruptionen rund um den Globus entwickeln. Macrons Rede in der Sorbonne vom 26. September 2017, das wird betont, war nicht nur eine rhetorisch ausgefeilte Darlegung des Wünschenswerten. Sie ist eine praktische Handlungsanleitung für den Weg in die Zukunft. Und ein Angebot an Deutschland, was man zusammen tun kann. Macron hatte Merkel das Redemanuskript vorab geschickt.
Frankreich blickt nach Afrika, Deutschland nach Osten
Selbstverständlich setzt Frankreich andere Prioritäten als Deutschland. In Paris blickt man, zum Beispiel, bei den außenpolitischen Herausforderungen eher nach Afrika als nach Osteuropa. Das Land erlebt permanenten Migrationsdruck von Süden. Ein Gutteil der Bedrohungen durch Terrorismus hat seinen Ursprung in der Sahelzone. In der Europapolitik setzt Frankreich auf beschleunigte Integration, vor allem in der Verteidigungs- und der Finanzpolitik. Wenn sich das mit allen Mitgliedern – sei es der EU, sei es der Eurozone – machen lässt: gut. Da aber manche bremsen, hat Frankreich auch nichts gegen ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten einzuwenden, in dem Paris und Berlin mit einigen Partnern die Avantgarde bilden und andere später folgen. Oder gar nicht.
Deutschland setzt andere Akzente, dessen ist man sich in Paris bewusst. Afrika ist schon auch wichtig für Berlin. Die größere Aufmerksamkeit der Deutschen gilt aber den Geschehnissen im Osten, voran in Polen und Tschechien, im Baltikum, in der Ukraine und in Russland. Deutschland hat den Fall der Berliner Mauer und die Ost-Erweiterung der EU als Zuwachs an Freiheit, Sicherheit und Stabilität erlebt. Zuvor war Deutschland „Frontstaat“. Jetzt haben andere diese Aufgabe. Auch wenn manche der neuen EU-Partner heute schwierig sind, voran Polen und Ungarn, liegt es nicht im deutschen Interesse, die historischen Fortschritte seit 1989 wieder preiszugeben und sich in ein „rheinisches Modell“ der EU zurückzuziehen, bei dem die alte EU aus der Zeit vor 1989 den Kern bildet und die Neumitglieder im Osten auf Dauer am Rand zurückbleiben.
Macron möchte die EU reformieren, Merkel fürchtet die Kosten
Die sukzessiven Krisen Europas haben einerseits gezeigt, dass weitere Integrationsschritte nötig sind, wie Macron sie anmahnt. Andererseits schlägt Kanzlerin Merkel diesen Weg nur zögerlich ein. Teils tut sie das aus Bedenken, was das für die Haftungsrisiken und Geldtransfers aus deutschen Steuerkassen bedeutet, teils aus Rücksicht auf die öffentliche Stimmung in Deutschland. Ein Modell, in dem die „hart arbeitenden Deutschen“ für die lockerere Lebensart des „Club Méditerranée“ aufkommen sollen, wie Boulevard-Medien das gerne karikieren, ist nicht populär in der Bundesrepublik. Und ebenso ein Bild, in dem deutsche Soldaten den Franzosen bei ihren Kolonialinteressen in Afrika helfen und dafür ihr Leben riskieren sollen.
Fragt man in den oberen Regierungsebenen in Paris nach den Unterschieden im Umgang mit der neuen Lage, nennen die Gesprächspartner jedoch gar nicht als Erstes EU-interne Themen wie die Zukunft der Eurozone. Die größte Enttäuschung ist, dass die Bundesregierung den „Sense of Urgency“, das Gefühl der Dringlichkeit, das man allenthalben in Paris spürt, nicht zu teilen scheint. Deutschland höre schon zu, reagiere aber zu langsam, lautet die Klage. Die Bundesregierung lege es gar nicht darauf an, schnell und dynamisch auf die veränderte Lage zu reagieren, von den inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten, wohin die gemeinsame Reise gehen soll, ganz abgesehen.
Unterschiede im Umgang mit Donald Trump
Unterschiede zu Deutschland beschreiben die Interpreten des Denkens an der Staatsspitze auch im Umgang mit Donald Trump und mit China. Die USA sind der wichtigste außereuropäische Verbündete, schon deshalb müssen Frankreich und Deutschland eine gute Arbeitsbeziehung zum US-Präsidenten haben. Macron hat sich von Anfang an entschieden, ein enges persönliches Verhältnis zu Trump aufzubauen. Deshalb hat er ihn am französischen Nationalfeiertag 2017 nach Paris eingeladen, samt gemeinsamer Abnahme der Militärparade am 14. Juli. Zu den gemeinsamen Interessen zählen Syrien, die Terrorabwehr und die Stabilisierung Afrikas, inklusive militärischer Interventionen, sowie die Eindämmung Russlands und Chinas. Gegenüber Peking solle Europa konsequenter seine Interessen verteidigen, auf gegenseitige Marktöffnung drängen, statt China mehr Rechte beim Zugang einzuräumen, als die Chinesen umgekehrt gewähren, und die strategischen Langzeitfolgen der aktuellen Entwicklungen analysieren.
Der Schauplatz, für den Macron seine Vorschläge entwickelt, beschränkt sich nicht auf Frankreich und Europa. Seine Bühne, hört man in Paris, sei vielmehr die breitere internationale Politik. In Macrons Sicht wird Frankreich nur dann weiterhin eine einflussreiche Rolle in der Welt spielen können, wenn Europa handlungsfähiger werde. Zugespitzt galt früher: Frankreich wollte die dominierende Macht in Europa sein, um die EU als Werkzeug französischer Weltpolitik einzusetzen.
Was nützt es, die EU zu dominieren, wenn die EU in der Krise ist?
Doch inzwischen steht die Funktionsfähigkeit der EU wegen ihrer vielen Krisen infrage. Was nützt es, die EU zu dominieren, wenn diese EU wenig Einfluss in der Welt ausüben kann? Macron muss erst mal die Handlungsfähigkeit Frankreichs und der EU wiederherstellen. Das lässt sich nur durch Reformen erreichen. Sie werden damit zu einer Vorbedingung, damit Frankreich die geostrategische Bühne bespielen kann. Dieses Denkmodell bildet den Hintergrund, vor dem die Macher der französischen Außen- und Sicherheitspolitik fragen, was gemeinsam mit Deutschland möglich ist, um die EU voranzubringen, und was nicht.
Sie beklagen zwei Hauptunterschiede, die dem vereinten Handeln Grenzen setzen: den deutschen Umgang mit innerer Sicherheit, Verteidigung und Militäreinsätzen sowie den deutschen Umgang mit Wirtschaft und Finanzen. Bemerkenswert ist: Die meisten Gesprächspartner sprechen Sicherheit und Militär zuerst an; es klingt, als seien die Fragen der Eurozone nachgeordnet. Sie argumentieren auch drängender und leidenschaftlicher bei den Verteidigungsfragen. Der Austausch zu den Finanzfragen wirkt routinierter und ritueller; da ist weniger „Dringlichkeit“ zu spüren.
Franzosen spotten über deutsche Obsessionen
Die Gesprächspartner kennen die gegenseitigen Befürchtungen und Vorurteile zwischen Franzosen und Deutschen. Sie beschreiben sie teils seufzend, teils scherzend. Deutschland müsse, wenn es mehr Kooperation und Integration im Verteidigungsbereich anstrebe, die Notwendigkeit einer gemeinsamen militärstrategischen Kultur anerkennen. Und sich von der „Obsession“ lösen, dass die von Frankreich gewünschte Integration zu einer „Transferunion“ mit unakzeptablen deutschen Lasten führen werde. Frankreich sei doch gar nicht so staatswirtschaftlich und protektionistisch, wie man in Deutschland gerne behaupte. Man habe längst gemeinsame Konzepte entwickelt, wie die Eurozone allmählich zusammenwachsen und sicherer gemacht werden könne, etwa durch die Bankenunion, die Umwandlung des Eurorettungsmechanismus in einen Europäischen Währungsfonds, den Einstieg in ein Eurozonenbudget.
Doch Deutschland zögere. Und verzögere.
Macron imitiert Kohl: Er trifft all die kleineren EU-Partner
Den Verdacht, Frankreich wolle Deutschland in eine kleinere rheinische EU zurücklotsen und die jüngeren EU-Mitglieder im Osten in einem zweiten Ring außerhalb Kerneuropas zurücklassen, weist man in Paris zurück. Macron habe sich in den ersten zehn Monaten nach der Wahl mit allen Staats- und Regierungschefs der übrigen 27 EU-Staaten bilateral getroffen. Da fragt man sich unwillkürlich: Hat Merkel das auch geschafft in ihrem ersten Amtsjahr? Oder hat sie vor, dies in den ersten zwölf Monaten ihrer vierten Kanzlerschaft zu tun? Dieser Ehrgeiz Macrons erinnert an Helmut Kohls Devise: Wer Europa führen wolle, müsse all die kleineren Partner einbinden und ihnen das Gefühl geben, dass sie gehört werden.
Der Direktor des Instituts für Internationale Beziehungen (IFRI), Thomas Gomart, stellt drei Herausforderungen in den Vordergrund. Die Bedrohung durch „dschihadistischen Terror“ sei für Frankreich enorm gewachsen. Die globale Machtverteilung ändere sich durch das aggressive Auftreten Russlands und das wachsende Gewicht Chinas. Folglich müsse sich auch „die Art, wie wir in Europa mit Macht und Sicherheit umgehen“, ändern. „Unsere potenziellen Gegner sind fähiger, uns Schaden zuzufügen, als in früheren Jahrzehnten.“ Er beklagt, dass „die Deutschen diese Sicht nicht teilen“ und „die Gefahren nicht so ernst nehmen“. Wenn die EU sich nicht an die neue Ära anpasse, könne das zu ihrer Auflösung führen.
Paris hat keinen anderen Partner als die anormalen Deutschen
Frankreichs Dilemma: Als potente sicherheitspolitische Partner bleiben am Ende nur die Deutschen, auch wenn sie wegen ihrer anormalen Einstellung zum Militär zugleich die schwierigsten sind. Großbritannien entfernt sich von der EU. Polen schaut nach Osten, nicht nach Süden.
Am Montag hat Macron seine Forderungen zur europäischen Verteidigungsunion erneuert. Die Sicherheit Europas dürfe nicht von den USA abhängen. „Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln.“ Eine Antwort aus Berlin kam nicht.
Der Essay ist ein Auszug aus dem Buch „Wir verstehen die Welt nicht mehr. Deutschlands Entfremdung von seinen Partnern“, Herder Verlag 2018. Man kann es hier bestellen, auf Wunsch auch mit Signatur des Autors.