Früherer Ethikrats-Chef fürchtet Diskriminierung: Lieber mehr Schnelltests als ein Immunitätspass
Der frühere Ethikrats-Vorsitzende Peter Dabrock sieht Alternativen zum geforderten Immunitätspass. Und er warnt vor „Moralisierungen“ in der Coronakrise.
Gesundheitsminister Jens Spahn plant einen Immunitätspass, mit dem eine bereits durchgemachte Covid-19-Erkrankung bescheinigt wird. Damit soll man nachweisen können – auch wenn der wissenschaftliche Beweis dieses Zusammenhangs noch aussteht –, dass man immun gegen die SARS-CoV-2-Viren ist und somit nicht infektiös. Aus dem gerade im Bundestag verabschiedeten Epidemiegesetz flog der Passus erst einmal heraus, Spahn wartet jetzt auf eine Stellungnahme des Ethikrats, der zur Hälfte gerade mit neuen Mitgliedern besetzt wurde. Herr Dabrock, wie sind Ihre Erfahrungen als langjähriger und jüngst ausgeschiedener Rats-Vorsitzender: Kann der Ethikrat, der sich gerade noch finden muss, diese Aufgabe in der gebotenen Eile bewältigen?
Dass Jens Spahn das aufgeschoben hat, war die einzig richtige Entscheidung. Es war ja von vornherein klar, dass das Gesetz am Donnerstag dieser Woche durch den Bundestag sollte und der Ethikrat nie hätte bis dahin eine Stellungnahme abgeben können. Es wäre nach dem ursprünglichen Plan also eine nachträgliche Beurteilung eines dann schon verabschiedeten Gesetzes gewesen, was die Aufgabe eines Ethikrats ad absurdum führen würde. Denn dann würde Ethik zur nachträglichen Legitimationsinstanz missbraucht. Die eigentliche Aufgabe des Ethikrats ist es aber, gesellschaftliche Implikationen abzuwägen und am besten noch in Gesetzgebungsprozesse als beratendes Gremium einzubringen. Es ist also gut, dass Zeitdruck rausgenommen wurde, denn ethisches Urteilen ist keine Sache, die in fünf Minuten abgewogen wird. Ich denke, unter dieser Prämisse ist die Aufgabe für den Rat zu bewältigen. Alle Mitglieder, alte wie neue, sind sich der enormen Verantwortung bewusst. An mangelnder Arbeitsbereitschaft der Mitglieder wird es definitiv nicht scheitern, da bin ich sicher. Als der Rat an der ersten Stellungnahme zur Bewältigung der Coronakrise arbeitete, tat er das unter Hochdruck und mit großer Gewissenhaftigkeit, und zwar innerhalb weniger Tage. Jetzt ist die Sache noch komplexer und da ist es gut, mehr Zeit zu haben.
Für alle Menschen ist die Krise eine völlig neue Situation. Wie findet hier der Ethikrat eine Position? Gibt es Entscheidungen aus der Vergangenheit, an denen man sich orientieren kann?
Jeder Bürger erlebt gerade eine unglaubliche Verdichtung der Ereignisse. Wenn man überlegt, wo wir vor acht Wochen standen und wo heute, welche politische Dynamiken sich seitdem entwickelt haben, dann wird klar, dass das auch an einem Ethikrat nicht vorbei gehen kann. Er muss sich ebenfalls in einer komplett neuen Situation zurechtfinden. Dabei hilft das in vielen Jahren Erfahrung aufgebaute Mindset, das die Mitglieder aus der Beschäftigung mit medizinischen, rechtlichen oder ethischen Fragen mitbringen. Aber die Prinzipien und Kriterien, die einen leiten, erleben unter den aktuellen Herausforderungen immer auch Ausdeutungen und Veränderungen. Das zeigt sich auch bei der Diskussion zum Immunitätspass.
Warum?
Ethik wird relevant, wenn man sich nicht mehr auskennt, es bedrohlich wird. Gerade in solchen Situationen neigen viele Menschen zu besonders klaren Positionierungen, die das Gegenteil als denkbare Alternative komplett ausschließen, das ist wie ein Pfeifen im Walde. Solchen Moralisierungen muss der Ethikrat, oder allgemein: die Ethik, Distanz gegenüber aufbauen. Ich sehe es doch an mir selbst. Ich war, als die Krise begann, sehr angetan von dem Gedanken eines Immunitäts-Zertikats. Ich dachte: Wenn ich es hätte, könnte ich meine alte Mutter im Pflegeheim besuchen, mehr noch, sie gar wieder umarmen. Und alle anderen könnten das ebenso. Auf den ersten Blick ist der Immunitätspass also aus ethischer Sicht verlockend.
Und dieser Meinung sind Sie jetzt nicht mehr?
Ich stelle mir als Verantwortungsethiker die Frage, wie ich die Vorteile erreiche, die ich mit meiner ersten moralischen Intuition zum Ausdruck gebracht habe, ohne die damit verbundenen Nachteile – Diskriminierung, De-Solidarisierung und der Anreiz, sich absichtlich anzustecken – in Kauf nehmen zu müssen.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Gibt es denn Alternativen zum Immunitätspass, die die gleichen Vorteile bieten?
Ja, und da überführen wir ethische Reflexionen in konkrete Gesellschaftsgestaltung. Es ist inzwischen Common Sense, dass zur Bewältigung der Krise gewisse Maßnahmen unabdingbar sind, und zwar für sehr lange Zeit: Abstandsgebote, Hygiene, Vermeidung von Menschenansammlungen, Nachverfolgung von Infektionswegen. Und vor allem das immer wieder zu hörende Mantra des „Testen, Testen, Testen“. Hier würde ich gerne ansetzen. Gehen wir mal davon aus, dass eine durchgemachte Erkrankung gegen SARS-CoV-2 immun macht, dann muss die erste Aufgabe der Politik eine exponentielle Steigerung der Testkapazitäten sein. Wenn wir dies erreichen, würden wir den Immunitätspass überflüssig machen und nicht die gravierenden Nachteile in Kauf nehmen.
Wie genau?
Meine Vision wäre es, dass überall dort, wo Menschen auf andere Menschen treffen, regelhaft Schnelltests durchgeführt werden, mit denen ausgeschlossen werden kann, dass eine Infektion und damit ein Ansteckungsrisiko vorliegt. Zunächst im systemrelevanten Bereich und dort, wo Menschen seit Wochen massivste Grundrechtseinschränkungen erleben wie in Altenheimen. Aber perspektivisch auch in Restaurants, Theatern, Kinos, ja, sogar bei Bundesligaspielen. Dafür wären hunderte Millionen von Schnelltests nötig, vielleicht auch Milliarden, aber es hätte einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Immunitätspass. Man könnte nämlich das gesellschaftliche Leben sofort für alle wieder ermöglichen, und nicht nur für eine äußerst kleine Gruppe jener, die bereits erkrankt waren. Mit dem Effekt, eine beim Pass fast unvermeidbare Spaltung der Gesellschaft zu verhindern und die Solidarität, die wir gerade in unserer Gesellschaft sehen und so nötig haben, zu bewahren. Das ist ja eine der wenigen positiven Seiten der derzeitigen Krise.
Sie sagten, Ethik müsse „Moralisierungen“ entgegenwirken. Haben Sie den Eindruck, es wird derzeit, auch mit Blick auf technische Möglichkeiten, in der Debatte zur Corona-Bekämpfung zu viel moralisiert?
Was ich vor drei Wochen gesagt habe, kann damals richtig gewesen sein und heute komplett falsch, oder umgekehrt. Jeder möge da ruhig bei sich selbst suchen, welche Überzeugungen er in letzter Zeit mit Bezug auf Corona und die Gesellschaft fundamental geändert hat. Und deswegen kann ich auch nicht ausschließen, dass bei allen genannten Problemen ein Immunitätspass doch eine Ultima Ratio ist. Was machen wir denn, wenn es eben nicht genügend Testkapazitäten gibt und auch keine funktionierende Tracing-App und wir doch noch in eine Situation wie in Bergamo laufen? In solch einer katastrophalen Lage warne ich jeden davor, Standards aus Normalzeiten, selbst aus Corona-Normalzeiten, einfach so zu übertragen. Da muss man – bei aller Vorsicht, die solch ein Satz gebietet – bereit sein, das Unmögliche zu denken. Meine vorhin beschriebene Vision ist ein Szenario für die zweite Phase der Pandemie. Fallen wir zurück in die Phase eins oder null, sieht das anders aus. Ethische Aussagen haben also einen Zeitindex und blicken auf die jeweilige Eingriffstiefe.
Neben dem Immunitätspass wird derzeit vor allem auch über die Tracing-App gesprochen, mit der Infektionswege per Smartphone-Tracking nachvollzogen werden sollen. Minister Spahn betont hier immer wieder die Freiwilligkeit des Modells. Könnte auch das bei einer Eskalation der Krise in Frage gestellt werden? In Südkorea, einer Demokratie, ist die App Pflicht.
Ja, aber zwischen Südkorea und uns gibt es erhebliche kulturelle Unterschiede. Das bewerte ich nicht, aber man muss festhalten, dass Deutschland weltweit das Land ist mit der wohl höchsten Sensibilität gegenüber Datenschutz und Privatheit. Angesichts der großen Solidarität, die wir gerade haben, sollten wir alles daransetzen, ein freiwilliges dezentrales Modell zu etablieren. Jeder Anschein, dass hier Zwangs-Elemente reinkommen könnten, schadet der Akzeptanz. Dabei brauchen wir die Tracing-App so schnell wie möglich, jeder Tag Verzögerung kostet Menschenleben. Und mit einer hohen Akzeptanz erübrigt sich auch die Frage, ob man ihre Nutzung vorschreiben müsste.
Haben Sie den Eindruck, dass Jens Spahn alles dafür tut, diese Akzeptanz in der Bevölkerung herzustellen?
Alle Politiker, deren Gesetzesvorschläge auf Transparenz, Beratung und Partizipation setzen, verdienen Vertrauen. Und ein solches Verhalten spricht für, nicht gegen, Entschlussfreudigkeit.
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