Wahlen in der Türkei: „Kritik wird nicht geduldet, es herrscht ein Klima der Angst“
Der türkische Präsident Erdogan zementiert seine Macht. Was Berlin und Brüssel nun tun sollten und was die türkische Gesellschaft erwartet. Ein Interview mit der Politologin Gülistan Gürbey.
Gülistan Gürbey ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderen Defekte Demokratien, internationaler Minderheitenschutz sowie Friedens- und Konfliktstudien. Gürbey lehrt an der FU Berlin und ist die erste Professorin der zweiten Migranten-Generation (kurdischer Herkunft) aus der Türkei in Deutschland.
Mit dem Sieg Erdogans tritt auch das neue Präsidialgesetz der Türkei in Kraft. Es wird behauptet, die Türkei bewege sich mit diesem Gesetz auf eine Diktatur Erdogans zu. Stimmen Sie dem zu?
Ja, diese Gefahr sehe ich auch. Auf diese Gefahr hat unter anderem auch die Venedig-Kommission des Europarates hingewiesen, weil das neue Präsidialsystem die Macht in der Hand des Präsidenten bündelt und keine effektiven Kontrollmechanismen eingebaut sind. Als Chef der Exekutive kann der Präsident u.a. per Dekret regieren, das Parlament und die Justiz sind geschwächt.
Der autoritäre Staats- und Regierungskurs ist jedoch schon seit längerer Zeit auf Hochtouren, die Grundfreiheiten und die Unabhängigkeit der Justiz sind ausgehöhlt, das Parlament geschwächt, Kritik wird nicht geduldet, es herrscht längst ein Klima der Angst. Dieser anhaltende Kurs wird nicht beendet, sondern im Gegenteil mit der Einführung des Präsidialsystems endgültig zementiert, was auf Kosten des gesellschaftlichen Friedens geht.
Erdogan führt seit langem einen Kampf gegen die Kurden. Müssen die Kurden, auch im Zuge des Präsidialgesetzes, nun mit härteren Vorgehensweisen der türkischen Regierung rechnen?
Die Repressionen gegen die kurdische HDP und gegen das gesamte kurdenpolitische Spektrum wird fortgesetzt werden. Bereits jetzt ist die HDP mundtot gemacht, sie ist kaum noch handlungsfähig, bedenkt man, dass der Vorsitzende und weitere HDP-Abgeordnete sowie mehr als 5000 Personen aus dem HDP Spektrum inhaftiert sind, die Errungenschaften der HDP im Bereich der lokalen Governance zunichte gemacht sind, eine antikurdische Stimmung in der türkischen Gesellschaft um sich greift. Ein Abkehr von diesem Repressionskurs ist nicht zu erwarten.
Wie sollte die deutsche Bundesregierung mit den innenpolitischen Machtveränderungen in der Türkei umgehen?
Deutschland muss klar Stellung beziehen und darf nicht weiter Zuschauer der Erosion der Demokratie bleiben. Zuverlässige Partnerschaft setzt Stabilität voraus, und Stabilität ist nur mit liberaler, rechtsstaatlicher Demokratie zu erreichen. Die Türkei ist längst davon abgewichen. Klare Position bedeutet, die Kooperation mit der Türkei im Bereich der Wirtschaft, des Handels und der Rüstung von klaren demokratiepolitischen Fortschritten abhängig zu machen, also Geld und Investition gibt es nur dann, wenn der demokratische Weg mit einem Fahrplan sichtbar eingeschlagen und konkret unterfüttert wird; ansonsten nicht.
Die Verhandlungen über die türkische EU-Mitgliedschaft sind in den vergangenen Wochen nicht weitergeführt worden. Werden die Verhandlungen nun womöglich ganz abgebrochen?
So schnell wird es nicht dazu kommen, auch mit Blick auf das gemeinsame Flüchtlingsabkommen. Außerdem ist die Türkei nach wie vor ein unerlässlicher strategischer Faktor für Brüssel und Berlin.
Allerdings ist die Türkei bereits jetzt nicht mehr EU-kompatibel. Würde man heute die politischen Kopenhagener Kriterien an die Türkei anlegen, von deren Erfüllung die Beitrittsgespräche abhängen, so würde die Türkei diese definitiv nicht erfüllen und die logische Folge wäre, die Beitrittsgespräche zu suspendieren. Zwar kritisiert die EU-Kommission in ihren Fortschrittsberichten demokratiepolitische Rückschritte, die selektive und willkürliche Anwendung von Recht etc.
Dennoch wagt keiner konsequent zu reagieren auf die Erosion der türkischen Demokratie, z. B. mit wirtschaftlich-finanziellem Hebel. Die EU, aber auch Berlin werden somit zum Zuschauer des Aufstiegs des türkischen Autoritarismus. Damit verliert die EU an Glaubwürdigkeit, was die Gewährleistung ihrer demokratischen Grundwerte angeht, während die Türkei als EU-Beitrittskandidatin sich längst von liberaler, rechtstaatlicher Demokratie verabschiedet hat.
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Katharina Heflik