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Erdogan-Anhänger feiern das Ergebnis der Türkei-Wahlen auf dem Kurfürstendamm.
© dpa/Paul Zinken
Update

Wahlen in der Türkei: OSZE-Mission kritisiert "ungleiche Bedingungen" bei Türkei-Wahl

Der unterlegene CHP-Kandidat Ince erkennt Erdogans Sieg an - und sorgt sich um die Zukunft des Landes. Der Grünen-Politiker Özdemir übt scharfe Kritik.

Der türkische Oppositionskandidat Muharrem Ince hat das Ergebnis der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag anerkannt. Die eigenen Ergebnisse der Präsidenten- und Parlamentswahlen unterschieden sich nicht wesentlich von denen der Wahlkommission, sagte der Kandidat der linksnationalistischen CHP bei einer Pressekonferenz in Ankara. „Ich erkenne die Wahlergebnisse an.“ Trotzdem bezeichnete er die Wahlen als "unfair". „Diese Wahl war, angefangen von der Art ihrer Ankündigung bis hin zur Verkündung der Ergebnisse, in allem eine unfaire Wahl“, sagte Ince in der Zentrale der Mitte-Links Partei in Ankara.

Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, kritisierte die Wahlen in der Türkei. Die Wahlbeobachtermission stellte einen "Mangel an gleichen Bedingungen" bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag fest. Zugleich kamen die OSZE-Beobachter aber in ihrem am Montag vorgelegten Bericht zu dem Schluss, dass trotz etlicher Unregelmäßigkeiten am Wahltag die Regeln "weitgehend eingehalten" worden seien.

Ince äußerte zudem große Sorgen über die Zukunft des Landes. Ince warnte, das „neue Regime“ sei eine „große Gefahr“ für die Türkei. Eine Partei, „sogar eine einzige Person“, sei Staat, Exekutive, Legislative und Justiz geworden. „Im System gibt es keinen Mechanismus, der der Willkür und Grobheit im Weg steht“, sagte er. „Die Türkei hat ihre Bindung zu demokratischen Werten gelöst.“

Ince beklagte am Montag Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, die noch aufgeklärt werden müssten. Auch Wahlbeobachter hatten Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung am Sonntag gemeldet. Erdogan hatte dagegen von einem „Fest der Demokratie“ gesprochen. Die Opposition hatte bei der Stimmenauszählung Manipulationsvorwürfe erhoben. Vereinzelt kam es zu Protesten von Anhängern der Opposition.

Die Wahlkommission hatte Erdogan bereits in der Nacht zum Montag bescheinigt, dass er bei der Präsidentenwahl in der ersten Runde die absolute Mehrheit gewonnen hatte. Erdogan selber hatte sich bereits zuvor zum Sieger erklärt. Das von Erdogans AKP angeführte Parteienbündnis errang der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge bei der Parlamentswahl am Sonntag außerdem die absolute Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung.

Mit den Wahlen wurde die Einführung des von Erdogan angestrebten Präsidialsystems abgeschlossen. Erdogan wird damit künftig Staats- und Regierungschef und ist mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft.

Claudia Roth fordert "grundlegenden Kurswechsel"

Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth forderte nach Erdogans Wahlsieg einen „grundlegenden Kurswechsel“ in der deutschen Türkei-Politik. „Erdogan darf nicht länger Partner unter vielen sein“, sagte die Grünen-Politikerin am Montag. „Erdogan ist Autokrat, und mit Autokraten dealt man nicht - auch nicht in der Flüchtlingspolitik.“

Roth forderte einen kompletten Stopp der Rüstungsexporte in die Türkei. Auch die Export-Bürgschaften für deutsche Unternehmen gehörten auf den Tisch. „Und es darf kein Gespräch mehr vergehen, in dem die Bundesregierung nicht in aller Deutlichkeit die Freilassung aller politischen Gefangenen einfordert.“

Roth konnte dem Wahlergebnis aber auch positive Aspekte abgewinnen. Dass der Präsidentschaftskandidat der linksliberalen CHP aus dem Stand mehr als 30 Prozent geholt habe, und die pro-kurdische HDP mit mehr als 10 Prozent wieder ins Parlament eingezogen sei, beweise die Ent- und auch die neue Geschlossenheit der pro-demokratischen Kräfte in der Türkei. „Diese Menschen müssen wir, muss auch die Bundesregierung endlich konsequent unterstützen“, forderte Roth.

Bei der türkischen Präsidentenwahl hat Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan in Deutschland fast zwei Drittel der Stimmen erhalten und damit deutlich mehr als zu Hause in der Türkei. Nach Auszählung von 100 Prozent der Stimmen kam er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in Deutschland auf 64,78 Prozent - bei einem Gesamtergebnis von 52,59 Prozent. Damit ließ er seinen Hauptkonkurrenten Muharrem Ince von der linksliberalen Oppositionspartei CHP mit 21,88 Prozent klar hinter sich.

Bei der Wahl des neuen türkischen Parlaments erhielt Erdogans islamisch-konservative AKP in Deutschland mit 55,69 Prozent sogar die absolute Mehrheit. Ihr Gesamtergebnis lag nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen dagegen nur bei bei 42,56 Prozent. Sie ist damit auf ein Bündnis mit der ultranationalistischen MHP angewiesen.

Erdogan hatte auch schon bei früheren Abstimmungen deutlich mehr Rückhalt bei den Türken in Deutschland als bei denen zu Hause. Bei der Parlamentswahl im November 2015 kam seine AKP in Deutschland auf 59,7 Prozent. Beim Referendum über Erdogans Verfassungsreform stimmten 63,1 Prozent mit Ja. Das oppositionelle Lager der Reformgegner kam in Deutschland damals nur auf 36,9 Prozent.

Özdemir: Deutsch-türkische Erdogan-Anhänger lehnen liberale Demokratie ab

Der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte das Wahlverhalten der Türken in Deutschland scharf. „Die feiernden deutsch-türkischen Erdogan-Anhänger jubeln nicht nur ihrem Alleinherrscher zu, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus. Wie die AfD eben“, sagte der Bundestagsabgeordnete. „Das muss uns alle beschäftigen.“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat bei der Wahl am Sonntag in Deutschland ein deutlich besseres Ergebnis erzielt als zu Hause. Fast zwei von drei Wählern stimmten in Deutschland für ihn. Nach Auszählung von 71,9 Prozent der Stimmen in Deutschland lag er mit 65,8 Prozent weit vor seinem stärksten Konkurrent Muharrem Ince von der größten Oppositionspartei CHP mit 21,5 Prozent. Das Gesamtergebnis des amtierenden Präsident ist deutlich schwächer: Nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen kam er auf 52,5 Prozent.

Erdogan hatte auch schon bei früheren Abstimmungen deutlich mehr Rückhalt bei den Türken in Deutschland als bei denen zu Hause. Bei der Parlamentswahl im November 2015 kam seine AKP in Deutschland auf 59,7 Prozent. Beim Referendum über Erdogans Verfassungsreform stimmten 63,1 Prozent mit Ja. Das oppositionelle Lager der Reformgegner kam in Deutschland damals nur auf 36,9 Prozent.

Özdemir würdigte vor allem, dass die pro-kurdische HDP die Zehn-Prozent-Hürde übersprungen hat und damit wieder ins Parlament einzieht. „Ihr gutes Abschneiden und die Wechselstimmung der letzten Wochen zeigen, dass viele Menschen in der Türkei die Nase voll haben von Erdogans Angstregime“, sagte der Grünen-Politiker. „Wäre dieser Wahlkampf einigermaßen fair verlaufen, dann hätte Erdogan die Macht abgeben müssen.“ Es bleibe den Oppositionsparteien CHP und HDP nun zu wünschen, dass sie auch über den Wahlkampf hinaus „ein Stachel im Fleisch des Regimes bleiben und das Licht der Demokratie in der Türkei hochhalten“.

Wahlsieg in der ersten Runde

Erdogan sagte bei seiner Siegesrede am frühen Montagmorgen in Ankara, es habe sich um Wahlen gehandelt, „die das künftige halbe Jahrhundert, die das Jahrhundert unseres Landes prägen werden“. Der bisherige und künftige Präsident sagte auf dem Balkon des AKP-Hauptquartiers vor jubelnden Anhängern: „Meine Brüder, die Sieger dieser Wahl sind die Demokratie, der Wille des Volkes und das Volk höchstpersönlich. Der Sieger dieser Wahl ist jeder einzelne unserer 81 Millionen Bürger.“

Erdogan selber hatte sich schon zum Sieger der Wahl erklärt, als die Auszählung der Stimmen noch lief. „Die inoffiziellen Ergebnisse stehen fest“, sagte er am Sonntagabend in Istanbul. „Demnach hat unser Volk meiner Person den Auftrag der Präsidentschaft und der Regierung gegeben.“ Bei der Parlamentswahl hätten die Wähler außerdem dem von seiner AKP geführten Parteienbündnis die absolute Mehrheit im Parlament verschafft.

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen bei der Präsidentenwahl komme Erdogan auf 52,55 Prozent. Der Kandidat der größten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, landete demnach mit 30,67 Prozent auf Platz zwei. Auch die „Plattform für faire Wahlen“ aus Wahlbeobachtern der Opposition sah Erdogan nach Auszählung von mehr als 96 Prozent der Stimmen bei 52,56 Prozent. Ince kam dort auf 31,34 Prozent. Ince wollte sich erst am Montagmittag zum Ausgang der Wahl äußern.

Die CHP rief ihre Anhänger dazu auf, Ruhe zu bewahren. Wie auch immer das Endergebnis ausfalle, das Volk solle sich „nicht provozieren lassen“, sagte CHP-Sprecher Bülent Tezcan. Die CHP werde die Situation beobachten, bis die Wahlkommission sich geäußert habe. Die Opposition hatte bei der Stimmenauszählung Manipulationsvorwürfe erhoben. Vereinzelt kam es zu Protesten von Anhängern der Opposition.

Bei der Parlamentswahl kommt das von Erdogans AKP geführte Parteienbündnis nach Anadolu-Angaben auf deutlich mehr als 340 der 600 Sitze. Anadolu zufolge lag die Wahlbeteiligung in der Türkei bei gut 88 Prozent. Wahlbeobachter meldeten Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung am Sonntag. Erdogan sprach dagegen von einem „Fest der Demokratie“. Knapp 60 Millionen Türken waren zur Wahl aufgerufen, mehr als drei Millionen davon leben im Ausland.

Demirtas führte seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis

Die Einführung des Präsidialsystems ist Erdogans wichtigstes politisches Projekt. Die Opposition hatte die Rückkehr zum parlamentarischen System versprochen und wollte außerdem den Ausnahmezustand aufheben. Das hatte Erdogan dann im Wahlkampf für den Fall seiner Wiederwahl auch zugesagt.

Bei der Präsidentenwahl lagen der inhaftierte Kandidat der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, und Meral Aksener von der national-konservativen Iyi-Partei mit gut acht beziehungsweise gut sieben Prozent in etwa gleichauf. Zwei weitere Kandidaten spielten keine Rolle.

Ince hatte vor Schließung der Wahllokale auf Twitter geschrieben: „Was sie auch tun, sie werden verlieren. Die Zeiten, in denen mit Betrug und Schwindeleien Wahlen gewonnen wurden, sind nun vorbei. (...) Ich werde Eure Stimmen mit meinem Leben verteidigen, wir werden es schaffen.“ Erdogan unterstrich nach der Abgabe seiner Stimme in Istanbul die Bedeutung der Wahlen. „Im Moment durchlebt die Türkei mit dieser Wahl regelrecht eine demokratische Revolution“, sagte er.

Drei Deutsche, die auf Einladung der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP die Wahl beobachten wollten, wurden bei der Wahl festgenommen. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur wurden die beiden Männer aus Köln und die Frau aus Halle in Sachsen-Anhalt in Uludere in der südosttürkischen Provinz Sirnak von der Polizei festgenommen. Das Auswärtige Amt in Berlin bestätigte die Festnahme.

Wahlbeobachter meldeten besonders aus dem Südosten der Türkei Unregelmäßigkeiten. Bei Auseinandersetzungen während der Wahlen wurde ein Oppositionspolitiker getötet. Dabei handele es sich um den Bezirksvorsteher der national-konservativen Iyi-Partei in der osttürkischen Provinz Erzurum, wie die Oppositionspartei mitteilte. Die Nachrichtenagentur DHA sprach von einer weiteren getöteten Person. Es habe sich um eine Fehde zwischen zwei Familien gehandelt. (dpa, AFP)

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